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  • 3. Teil – Briefe aus der Reha in Bad Jetwede

    Hallo meine Liebe!

    Wie geht es dir?

    Im Speisesaal hat jeder einen fest zugewiesenen Sitzplatz. Offen gesagt, bin davon nicht begeistert. Es ist hier wie im Schullandheim! Ich nehme das als Herausforderung, Dinge so anzunehmen wie sie sind.

    Im Speisesaal sitzen mind. 80 Leute. Frauenanteil ca. 90%. Es ist ein Gequatsche und Geschnatter, wie im Hühnerstall. Es ist so laut, dass ich kaum klar denken kann. Ich sitze gemeinsam mit Susanne, Meike und Inge an Tisch 35b. Susanne erinnert mich so sehr an meine älteste Schwester. Sie redet viel und laut, sie sieht so aus wie sie und ist im gleichen Alter. Grundtenor: alles doof, ich kann es aber nicht ändern, die anderen sind schuld.

    Inge ist Krankenschwester, Anfang 60, und lässt sich die naturkrausen Haare schneiden, wenn der Mond im Löwen steht, da dann die Locken am besten fallen. Das finde ich so super, dass ich gar nicht weiß, was ich dazu sagen soll. Dass ich ihre Frisur furchtbar finde, sage ich natürlich auch nicht. Sie erinnert mich an meine Mutter. Sie kann alles, sie weiß alles, nur um sich selber kümmern, das kann sie nicht. Meike redet nicht viel. Sie hat vor Wut mit der Faust vor die Wand geschlagen und kann jetzt nur mit ihrer linken Hand essen. Darüber ist sie wütend. Ansonsten tut sie cool und abgeklärt. Wie meine ältere Schwester.

    Zum Glück haben nicht sechs Leute am Tisch Platz, ich befürchte sonst könnten hier noch zwei Männer sitzen, die so sind wie mein Bruder und mein Vater. So stelle ich mir die Hölle vor, ich sitze mit meinen Eltern und meinen Geschwistern an einem Tisch. Bei einem ewig andauernden Abendessen an Heilig Abend, im Hintergrund läuft „White Christmas“ in der Dauerschleife. Bei der Vorstellung könnte ich schreien.

    Susanne redet fast ununterbrochen. Sie ist sehr froh, dass eine Krankenschwester mit am Tisch sitzt, bei der sie medizinischen Rat einholen kann. Susanne hat seit Jahren Migräne und nimmt dagegen täglich starke Schmerztabletten. Zuhause hat ihr Arzt ihr Anti-Depressiva verordnet. Da sich durch die zeitgleiche Einnahme der beiden Präparate Wechselwirkungen ergeben haben, ist sie beim Frisör mit der Blondierung in den Haaren zusammengebrochen. Zum Glück konnte die Friseurin diese noch aus den Haaren waschen, bevor der Rettungswagen eintraf. Der Bestatter des Ortes, den sie seit langen Jahren kennt, hat ihr später versichert, dass er sie im Todesfall trotzdem noch richtig hübsch hergerichtet hätte. Das war sicherlich eine große Erleichterung für sie. Susanne ist u.a. hier, damit sie richtig auf die Anti-Depressiva eingestellt werden kann. Sie wiederholt gebetsmühlenartig, dass sie mit der Einnahme dieser erst beginnen kann, wenn sie die Schmerztabletten abgesetzt hat. Sie kann die Schmerztabletten aber nicht absetzen, weil sie Migräne hat. Wenn sie aber die Anti-Depressiva nicht nehmen kann, wird es ihr nicht besser gehen. Ihre Schlussfolgerung lautet, dass ihr keiner helfen will. Okay. Dann erzählt sie von dem Telefonat mit ihrer Mutter. Diese wirft ihr vor, dass sie so egoistisch sei, dass es unmöglich ist, dass sie einfach drei Wochen weg sei. Zum Schluss verabschiedet sie sich mit dem Satz: „Und friss nicht so viel. Du bist eh zu fett!“ Das sitzt – Schweigen am Tisch.

    Oh, ich muss los. Ergotherapie, bei der Körbe geflochten bzw. Specksteine zu Seifenschalen oder Teelichthaltern geformt werden, steht leider doch nicht auf meinem Therapieplan. Dafür habe ich gleich zum ersten Mal Gestaltungstherapie. Was das wohl wird?

    Liebe Grüße!

  • Der Tag meiner Geburt

    Heute habe ich einen Beitrag von Lareine zum Thema #derTagmeinerGeburt auf Essential Unfairness gelesen und bin somit auf die Blogparade von Nieselpriem aufmerksam geworden.

    Da ich vor einem Monat hier über die Schwangerschaft meiner Mutter, die Geburt und die vier Wochen danach geschrieben habe, möchte ich gerne an der Blogparade teilnehmen.

    Am kommenden Sonntag ist Muttertag. Meine Mutter sagte immer, dass ihr dieser Tag nicht wichtig sei, aber sie erwartete trotzdem, dass ich sie besuche. Dieses Jahr werde ich das nicht tun. Aus Gründen, die ich hier beschrieben habe. Und es fühlt sich richtig an.

    Ich würde gerne eine Mutter haben, mit der ich offen sprechen kann. Eine Mutter, der ich glauben kann. Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Erinnerungen meiner Mutter in sehr vielen Fällen nicht mit meinen Erinnerungen übereinstimmen. Bis zu einem bestimmten Grad halte ich es für normal, dass die Erinnerungen anders als das Erlebte sind. Aber bei meiner Mutter ist vieles durcheinander geraten und vieles ist so nicht passiert.

    Also selbst wenn ich meine Mutter heute fragen würde, wie das so war mit meiner Geburt, weiß ich nicht, ob ich ihr glauben kann. Am Ende werden immer mehr Fragen und Zweifel als Klarheit bleiben. Und so habe ich aufgeschrieben, was meine Mutter mir früher erzählt hat und ob das so war, das werde ich nie erfahren.

    Wie alles begann!

  • 2. Teil – Briefe aus der Reha in Bad Jetwede

    Hallo meine Liebe!

    Meine Ex-Therapeutin war in manchen Dingen wirklich für mich sehr, sehr hilfreich. Viele Dinge konnte ich ändern. Mit ihr darüber zu sprechen, hat meine Gedanken sortiert, vieles wurde mir dadurch erst klar.

    Aber leider ist oft dort, wo Licht ist auch Schatten. So sehr sie mich in manchen Dingen bestärkt hat, so sehr hat sie mich in anderen Dingen verunsichert.

    Nach unserem ersten Gespräch muss ihr klar gewesen sein, dass ich nun, wo ich bei ihr bin, mein Trauma aufarbeiten muss! Vielleicht war auch ihr Ehrgeiz geweckt. Das ist ja durchaus auch wünschenswert, aber meines Erachtens hat sie sich irgendwann daran festgebissen. „Ich werde dieser Patientin helfen, ihr Trauma zu überwinden.“

    Im Laufe der Therapie kamen bei mir Zweifel hoch. Trauma aufarbeiten um jeden Preis? Wenn ich innerlich diese Widerstände spüre, mir jede Zelle meines Körpers signalisiert, dass ich das nicht will, muss ich trotzdem dagegen ankämpfen?

    Die Nachricht meiner Therapeutin war klar: Wenn ich nicht mir ihr gemeinsam die Büchse der Pandora öffne, wird etwas „Schlimmes“ passieren. Wenn ich nicht meine Vergangenheit aufarbeite, werde ich mein „Schicksal“ an meine Kinder weitergeben. Wenn ich mich nicht intensiv mit meinem Trauma beschäftige, bin ich nicht besser als meine Mutter.

    Ja, es wäre zwar schon gut, dass ich offen darüber sprechen kann, aber ich würde alles rationalisieren. Ich wäre ihr härtester Fall. Niemals hat sie jemanden kennengelernt, der so sehr rationalisieren würde wie ich. Ich wäre bei ihr in einem geschützten Raum, ich könnte alles rauslassen. Ja, es wäre auch ein Fortschritt, dass ich den Kontakt zu meinen Eltern abgebrochen habe, aber das Ziel wäre doch die Aussöhnung.

    Meine Zweifel wurden immer größer. Ich fühlte mich besser, aber musste immer an das denken, was die Therapeutin mir sagte. Ich stellte mir die Frage, darf ich, nach dem was ich erlebt habe, überhaupt glücklich sein? Rede ich mir womöglich ein, dass ich glücklich bin? Warum fiel es mir so leicht, den Kontakt zu meiner Schwester und zu meinen Eltern abzubrechen? Muss ich nicht traurig sein? Bin ich zu rational und verdränge meine Gefühle?

    Im ersten Gespräch mit meiner Bezugstherapeutin hier erzählte ich, warum ich letztes Jahr eine Krise oder eine Art Burn-out hatte, was in meiner Kindheit passiert ist, was sich verändert hat im vergangenen Jahr. Sie fragte mich, was mein Ziel in der Reha ist. Mein Ziel ist es Klarheit zu gewinnen, mit mir und meinen Entscheidungen ins Reine kommen. Sie sagte: „Okay, alles kann, nichts muss.“ Für mich die erste große Erleichterung.

    Einen Tag später Zweitsicht bei der Oberärztin Frau Dr. Möhnesee. Ihre Aufgabe ist es, die Ergebnisse/ Erkenntnisse der Bezugstherapeutin in diesem Zweitgespräch zu „prüfen“. Ggf. würde sie darüber entscheiden, welche Antidepressiva, die richtigen wären.
    Ich erzählte ihr also wieder, das was ich der Bezugstherapeutin erzählt habe, in Kurzform. Sie schaut mich an und beginnt mit: „Frau Heart, Sie sind zu gesund für eine Reha. Was Ihnen passiert ist, ist schlimm. Keine Frage! Aber sie haben einen Weg gefunden, damit umzugehen. Wie Sie gesagt haben, was passiert ist, hat sie geprägt, es bestimmt aber nicht Ihr Leben. Sie haben bereits die richtigen Entscheidungen getroffen. Sie werden sich als Kind Ihrer Eltern immer wieder fragen, ob es richtig ist, keinen Kontakt zu haben, das ist vollkommen normal. Es kommt aber nur auf das Ergebnis an und das ist, sich abzugrenzen. Sie müssen Ihr Trauma nicht aufarbeiten. Wenn sie nicht das Gefühl haben, dass etwas Schlimmes passieren wird, warum auch. Ich habe nie davon gehört, dass sich deswegen Ihre Erlebnisse bei Ihren Kindern wiederholen müssen. Ich habe das Gefühl, dass sie gut auf Ihre Kinder aufpassen. Sie müssten eigentlich einen Wellness-Urlaub machen, aber trotzdem können Sie hier bleiben.“

    Wow! Ich rationalisiere nicht, sondern bin reflektiert, habe mich mit meinem Trauma auseinander gesetzt und kann offen darüber sprechen.

    Augen auf bei der Therapeuten-Wahl, sage ich dir. In Zukunft werde ich versuchen, mich stärker auf meine Intuition zu verlassen. Hätte ich meine aufkommenden Zweifel ernst genommen und hätte einen anderen Therapeuten gesucht, hätte ich früher Klarheit gewonnen und wäre gar nicht hier! Aber: Hätte, hätte, Fahrradkette. Jammern bringt jetzt nix, aber in Zukunft werde ich anders handeln.

    Liebe Grüße!

  • 1. Teil – Briefe aus der Reha in Bad Jetwede

    Hallo meine Liebe!

    5 Wochen gehen rum wie nix! Das hat Jens zu mir gesagt, als ich gestern um 6:30 Uhr das Haus verlassen habe. So richtig glauben, kann ich es nicht. Jens hat sich zusammengerissen, ich habe geheult. Die Kinder haben es nicht bemerkt und haben fröhlich Tschüss gerufen. Ich bin weinend zur Bushaltestelle gegangen und wäre doch einfach so gerne Zuhause geblieben.

    Heute war das psychotherapeutische Aufnahmegespräch. Meine sogenannte Bezugstherapeutin ist ungefähr in meinem Alter und wirkt sehr sympathisch. Ich habe ihr erzählt, warum ich eine Reha beantragt habe und dass ich keine Traumabearbeitung möchte, was okay ist.

    Davon abgesehen, hat sie mir Reittheraphie angeboten. Ich habe freundlich abgelehnt und ihr gesagt, dass meine Ex-Therapeutin mit ihren Reitgeschichten eine starke Abneigung gegen Pferde bei mir hervorgerufen hat. Es gibt eine Vielzahl von Therapieangeboten. Bogenschießen, Ergotherapie (= mit Speckstein arbeiten, Körbe flechten, …), Gestaltungstherapie, Gruppengespräche, Progressive Muskelentspannung und Stressbewältigung usw. Also, alles Dinge, die ich schon immer machen wollte… nicht. Ich versuche wirklich offen zu sein, aber es ist für mich eine sehr große Herausforderung.

    Gerade war ich bei der ärztlichen Erstuntersuchung. Ich habe Reflexe, mein EKG ist wunderbar, ich kann hören, körperlich alles gut. Ich muss zum Glück nicht den Nordic Walking Kurs belegen, stattdessen soll ich zur Krankengymnastik im Wasser. Das erste Mal in meinen Leben habe ich das Gefühl, dass ich die Beste in einer „Sportgruppe“ sein könnte. Yeah!

    Ich habe ich mir die auf den Zimmern ausgelegte Info-Mappe durchgelesen. Es wimmelt von Geboten und Verboten. Besuch auf dem Zimmer verboten. Zapfenstreich um 22:30 Uhr. Feste Platzzuweisung im Speisesaal. Herrlich! Schlimmer als in der Jugendherberge, aber ich will nicht jammern, ich habe ein Einzelzimmer und selbst das ist keine Selbstverständlichkeit.

    Alle Leute hier sind nett und freundlich. Ach ja, und mit Inge, meinem Speisesaal-Buddy, gehe ich am Sonntag zum verkaufsoffenen Sonntag in Bad Jetwede… auf der Einkaufsmeile. Und ich sage dir, dass das wahrscheinlich das aufregendste Event in den kommenden 5 Wochen für mich sein wird. Inge ist wirklich sehr sympathisch, aber wie der Name vermuten lässt ist sie nicht ganz unwesentlich älter als ich. Aber du siehst ich arbeite bereits intensiv an meinen Socializing-Skills.

    Viele Grüße aus der Reha!

  • Kinderbilder im Netz?

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    Vor ein oder zwei Jahren las ich einen Artikel über das Thema „Kinderbilder im Netz“ in der Nido. Der Autor sprach sich klar dagegen aus. Ich löschte daraufhin die wenigen Bilder, die ich bei facebook von meinen Kindern gepostet hatte.

    Das Nuf hat etwas dazu geschrieben, dem ich mich klar anschließen kann. Auch auf Herzdamengeschichten gibt es dazu einen Beitrag, den ich sehr gerne gelesen habe. Wer sich online ein wenig umschaut, wird sehr viele aktuelle Artikel, Blog-Beiträge etc. finden. Wie bei den meisten Themen halte ich es für wichtig, dass sich Eltern über das Für und Wider Gedanken machen und abschließend zu einer eigenen Meinung finden, die sich für sie richtig anfühlt. Und wenn sie Kinderbilder im Internet veröffentlichen, ist das für mich okay.

    Ich aber werde nicht nur darauf verzichten Bilder meiner Kinder online zu stellen, sondern verzichte auch darauf Bilder meines Mannes, meiner Eltern, meiner Freunde, meiner Kollegen usw. zu veröffentlichen.

    Meine Kinder mögen es nicht, wenn ich mit anderen in ihrer Anwesenheit über sie spreche. Ich mache das ohnehin sehr selten, weil mir das als Kind immer sehr unangenehm und peinlich war. Ich mochte es einfach nicht. Ich bin mir sicher, dass meine Kinder nicht möchten, dass ich hier Bilder von ihnen zeige. Ich bin mir auch sicher, dass meine Kinder nicht möchten, dass ich hier über sie schreibe. Da sie aber zu meinem Leben gehören, wird es für mich schwer werden, sie ganz aus dem Blog rauszuhalten. Es ist für mich aber einfach auf Bilder zu verzichten. (Mal davon abgesehen, dass ich ohnehin anonym schreibe und es keinen Sinn ergeben würde, dann Fotos zu veröffentlichen, ob von mir oder meinen Kindern.)

    Da aber die Ausnahmen die Regel bestätigen, präsentiere ich heute ein Babyfoto von mir. Mit meinen Eltern. Warum ich einen Bierkrug in der Hand halte und so aussehe, als hätte ich einen großen Schluck davon getrunken, bleibt ein ewiges Rätsel. Ich denke, dass mich niemand erkennen wird, denn inzwischen trage ich keine Frotteestrampler mit Elefanten-Applikationen mehr!

  • Ich werde Feuerwehrmann!

    Mein Vater stand in Erziehungsfragen immer bedingungslos hinter meiner Mutter. Er kam von der Arbeit nach Hause, wenn ich schon im Bett war. Oft erst nach 22 Uhr.
    Ich habe keine Erinnerungen an ein gemeinsames Frühstück. (Obwohl mir gerade auffällt, dass ich keine einzige Erinnerung an überhaupt irgendein Frühstück in unserem Haus neben der Kirche habe.) Alles, was er vom Familienalltag wusste, war das, was meine Mutter ihm erzählte.

    Als ich ungefähr fünf oder sechs Jahre alt war, zündelte ich mit dem Nachbarsjungen im Wald. Er war zwei Jahre älter als ich und ich weiß noch ganz genau, dass er sich schon immer wünschte, entweder Müllmann oder Feuerwehrmann zu werden. Was ich nicht mehr weiß: wer die Idee dazu hatte, wer die Streichhölzer mitbrachte und was im Detail passierte.

    Umso besser kann ich mich daran erinnern, dass genau dieser Junge ein paar Stunden später an unserer Haustür klingelte und mir, während meine Mutter daneben stand, sehr genau erklärte, warum es falsch von uns gewesen war, Feuer im Wald zu machen. Ich konnte das nicht glauben! Warum auf aller Welt kam er zu uns nach Hause und erzählte mir das? Und meine Mutter konnte das alles hören! War der nur blöd? Ich stand da wie erstarrt.

    Nachdem die Haustür wieder geschlossen war, sagte meine Mutter: „Warte ab, bis deine Vater von der Arbeit kommt!“ Ein Horrorsatz! Und so kam es dazu, dass mein Vater mich über das Knie legte und mir mehrfach auf meinen nackten Hintern schlug. Wie erniedrigend das war!

  • #regrettingmotherhood

    Ich war damals einfach froh, dass die Zeit auf der Realschule vorbei war. Ich hatte es endlich hinter mir! So kam es dann auch, dass ich nicht beim Klassentreffen war. Eine Freundin, die einzige mit der ich aus Schulzeiten noch Kontakt habe, war dort und erzählte mir im Anschluss, dass viele es nicht glauben konnten, dass ich drei Kinder habe. Was? Sie hat Kinder?

    Wäre ich dort gewesen, hätte ich gefragt, warum es sie so überrascht, dass ich Mutter bin. Und was sie stattdessen erwartet haben. Ich habe mir im Teenageralter weder Kinder gewünscht noch ausgeschlossen, Kinder zu bekommen.

    Wieso dachten sie, dass ich keine Kinder hätte? Die meisten hatte ich mehr als 15 Jahre nicht gesehen. Welche Vorstellung von einer Mutter hatten sie? Und was an mir, passte nicht in diese Vorstellung?

    Ich versuche, andere nicht zu beurteilen. Es passiert mir aber natürlich trotzdem, dass ich Menschen in Schubladen stecke. Beim Elternabend meldet sich eine Mutter mit so viel Elan und Begeisterung bei der Frage, wer das Protokoll schreiben will, dass sie sich fast den Arm ausrenkt. „Ach, du meine Güte,“ denke ich, „da ist sie, die Super-Mutti!“ Es ist so einfach, ihr ein Etikett aufzukleben, aber es ist auch vollkommen unangebracht, dass ich sie beurteile. Es ist doch unerheblich, was ich über sie denke. Ich weiß, dass ich das Protokoll nicht schreiben will. Es ist doch gut, dass sich jemand dafür meldet.

    Im echten Leben gehe ich allen Grundsatzdiskussionen mit Eltern aus dem Weg. Online kann ich sehr gut verfolgen, welche Ausmaße das annehmen kann. Kein Thema, was in irgendeiner Weise mit Kindern oder dem Thema Elternschaft zu tun hat, ist zu gering, um es nicht doch kontrovers zu diskutieren. Familienbett, Impfungen, Flaschenmilch, Breikost, Globuli, Stoffwindeln, etc. Es wird beurteilt und verurteilt. Die Eignung als Mutter oder Vater hängt von meiner Einstellung zum Thema Stillen (oder jedem beliebigen Thema) ab. Es wird auf eine Art und Weise diskutiert, dass sich mir den Magen umdreht.

    Und jetzt gibt es also Mütter, die zugeben, dass sie ihre Entscheidung Kinder bekommen zu haben, bereuen. Unter dem Artikel „Unglückliche Mütter – Sie wollen ihr Leben zurück“ der SZ gibt es keine Kommentarfunktion. Es ist wahrscheinlich besser so!
    Durch Mama arbeitet bin ich auf den verlinkten Artikel aufmerksam geworden.

  • Let the good vibes get a lot stronger!

    Mein bester Freund war Nils. Unsere Freundschaft dauerte ungefähr fünf oder sechs Jahre. Wir wohnten in der gleichen Siedlung, wir gingen auf die gleiche Grundschule. Mit dem Wechsel auf unterschiedliche weiterführende Schulen und durch den Umzug von Nils in einen anderen Teil der Stadt nahm der Kontakt mit der Zeit immer mehr ab.

    Aber im Grundschulalter verbrachten wir fast jeden Tag miteinander. Wir sprachen darüber, dass wir später heiraten würden und machten Pläne. Die Nachmittage verbrachten wir draußen oder wir waren bei Nils. Seine Mutter war berufstätig und ich mochte es sehr dort zu sein, wahrscheinlich weil wir dort oft ungestört waren.

    Nils hatte sogar einen Schallplattenspieler. Ich musste mir den Kassettenspieler mit meiner Schwester teilen. Er hatte u.a. „Die drei Fragezeichen und der unheimliche Drache“ als LP und eine LP mit Sommerhits. Darauf waren Hits wie Bodo mit dem Bagger von Mike Krüger, Goethe war gut von Rudi Carrell und Presslufthammer Bernhard von Torfrock. Selbstverständlich Lieder, die ich immer noch unheimlich gerne höre… Es war natürlich nicht so, dass wir nichts hatten, aber die Auswahl an Musik war sehr eingegrenzt, youtube war noch nicht erfunden, eine LP kostete mindestens 20 Mark und so mussten wir mit dem zufrieden sein, was wir hatten. Wir hörten die LP also sehr, sehr oft. So oft, dass ich mich an den Text von Goethe war gut noch immer sehr gut erinnern kann.

    Auf der LP war auch der Song Sunshine Reggea von Laid Back, einer dänischen Band. Den musste Nils immer überspringen.

    Meine Mutter war der Überzeugung, dass es sich bei Reggea Music um Teufelsmusik handelte. Ich habe nicht gefragt, warum. Ich glaube, ich habe meine Mutter nie nach Gründen gefragt. Ich habe keine Ahnung, wie meine Mutter auf diesen Gedanken kam. Das ist keine Frage, die mich beschäftigt. Ich weiß, dass es sich um haarsträubenden Blödsinn handelt Reggea und in Verbindung mit dem Teufel zu bringen! Als Kind habe ich es geglaubt.

    Ich fürchtete mich davor Sunshine Reggea zu hören und mein Vater hörte Zuhause Black Sabbath und Judas Priest. Wobei ich auch diese Bands nicht mit Okkultismus oder Satanismus in Verbindung bringen würde, aber das war damals ein riesen Thema. So wie auch versteckte Teufelsbotschaften in Liedern. Wir haben Zuhause Tonbänder rückwärts abgespielt, konnten aber nichts finden…

    1989 brachte Madonna das Lied Like a Prayer raus. Das Video dazu war für meine Mutter die pure Blasphemie. Ich war aber inzwischen in einem Alter, in dem mir egal war, was sie sagte.

    Ich trage meiner Mutter nichts nach. Die Dinge, die sie mir erzählte, waren für sie Tatsachen oder entsprachen ihren Überzeugungen. In vielen Fragen bat mir meine Mutter Orientierung. Und zwar die Orientierung, es nicht so zu machen wie sie.

  • Lasset die Kinder zu mir kommen!

    Ich hatte immer Angst vor dem Pastor der Gemeinde. Wenn ich ihn sah, was häufig geschah, da er nebenan mit seiner Familie wohnte, ging ich ihm aus dem Weg. Er war ein sehr strenger und autoritärer Vater. Wie er als Pastor war, kann ich nicht sagen.

    Er hatte fünf oder sechs Kinder, die beiden jüngsten Kinder Benjamin und Andreas waren ungefähr in meinem Alter. Der jüngste, Benjamin, war extrem schüchtern und leidete sehr unter Andreas, der ca. zwei Jahre älter gewesen sein muss. Andreas war das Gegenteil von Benjamin. Wild, laut, er machte sehr viel Unsinn und wenn er es für richtig hielt, schlug er zu.

    Ich kann mich erinnern, wie er Lehm an das Garagentor seines Vaters warf. Wie er auf ein Auto kletterte und auf dem Autodach herumsprang. Wie er mir beinah eine Gartenharke auf den Kopf geschlagen hätte, wenn meine Schwester ihn nicht mit einem gezielten Tritt in den Arsch daran gehindert hätte. Wie er immer wieder mit seinen Fäusten auf den Rücken seines Bruders trommelte, der es nicht wagte sich zu wehren.

    Jedes Mal wenn eine seiner Missetaten entdeckt wurde, konnte man seinen Vater in der ganzen Siedlung nach ihm schreien hören. Wer möchte, kann sich das in der Tat so vorstellen, wie auf dem Katthult Hof, wo der Vater nach Michel ruft und ihm auf der Flucht zum Schuppen hinterherrennt. Für Andreas gab es aber keinen Schuppen, der ihn vor der Wut seines Vaters schützen konnte. Wenn er ihn geschnappt hatte, bekam er diese Wut zu spüren. Der Pastor der Gemeinde schlug auf seinen Sohn ein, ohne Gnade, ohne Rücksicht. Wir waren dabei, wir sahen alles.

    Ich kann mich nicht erinnern, dass ich darüber mit meinen Eltern gesprochen habe. Es ist für mich unvorstellbar, dass ein Kind auf so eine Weise bestraft wird, die von allen beobachtet werden kann und es keiner für nötig hält einzuschreiten. Seit dem Jahr 2000 haben Kinder in Deutschland das Recht auf gewaltfreie Erziehung. Erst seit 2000!

    Meine Geschwister und ich wurden auch geschlagen, hinter verschlossener Tür. Meine Schwester erzählte mir, dass es immer wieder zur folgenden Situation kam. Wir waren mit meiner Mutter im Auto unterwegs. Eine Mutter mit vier Kindern in einem Auto. Unter uns kam es häufig zu Streit. Meine Mutter ermahnte uns, einmal, zweimal, dreimal. Es half nichts und als meiner Mutter die Nerven durchbrannten sagte, sie dass Zuhause eine Tracht Prügel auf uns wartete. Und so war es. Wir stellten uns der Reihe nach auf und meine Mutter arbeitete ihre Wut an uns ab. Ich kann mich daran nicht erinnern, vielleicht weil ich als jüngste verschont blieb, vielleicht weil ich mich nicht erinnern will oder kann.

    Meine Mutter schlug mit der flachen Hand zu. Nachdem sie sich mit einem elektrischen Brotmesser in die rechte Hand geschnitten hatte, nahm sie einen Handfeger zur Hilfe. Denn das Schlagen mit der Hand schmerzte sie nach diesem Unfall zu sehr. Ich kann mich noch deutlich daran erinnern, dass es für mich eine Tracht Prügel setzte, nachdem ich meine Schwester im Gesicht gekratzt hatte. Meine Mutter hatte große Angst davor, dass ihre Töchter Narben im Gesicht haben könnten. Sie sagte einmal zu mir, dass uns dann kein Mann mehr haben wolle. Ich glaube, dass sie das nicht ernst gemeint hat. Ich antwortete ihr jedenfalls in meiner kindlich nüchternen Art, dass einem Mann, der mich liebte, Narben egal seien.

    Sonntags in der Kirche predigte der Pastor von der Kanzel:

    „Und Jesus sagte, Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solchen gehört das Reich Gottes! Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.“

    Die Gemeinde, meine Eltern, hörten aufmerksam zu.

  • Wie alles begann!

    Meiner Mutter wurde vom Arzt dazu geraten, sich aus medizinischen Gründen sterilisieren zu lassen. Da sie bereits drei Kinder hatte, stimmte sie zu. Welche Gründe das waren, weiß ich nicht. Als Kind glaubte ich, was meine Mutter erzählte, und es kam mir nicht der Gedanke, nachzuhaken. Als mir Zweifel kamen, habe ich das hingenommen und nicht nachgefragt. Man könnte auch sagen, dass es bei uns keine offene Gesprächskultur gab. Es gibt also viele Erzählungen, bei denen ich vom Wahrheitsgehalt nicht gänzlich überzeugt bin.

    Und so werde ich einfach das schreiben, was mir erzählt wurde.

    Sie wurde also sterilisiert und was keiner ahnte, sie war zu diesem Zeitpunkt schwanger. Mit mir. Da sie sich immer viele Kinder gewünscht hatte, freute sie sich darüber. Details der Schwangerschaft kenne ich nicht. Wenn ihr von weiteren Schwangerschaften abgeraten wurde, war es dann eine Risikoschwangerschaft? Gab es diesen Begriff überhaupt schon? Ich gehe davon aus, dass soweit alles nach Plan lief, denn nach 40 Schwangerschaftswochen wurde ich geboren.

    Meine Mutter ist der Überzeugung, dass eine Geburt keine Schmerzen bereitet, insofern man die richtige Atemtechnik anwenden würde. Sie erzählte immer wieder von ihren vier Geburten, während denen sie die anderen Frauen, die ihre Kinder bekamen, vor Schmerzen schreien hörte, und sie zu dem Schluss kam, dass diese sich anstellen würden. Keine Frage, dass ich auch das als Kind geglaubt habe. Ich änderte meine Meinung aber lange bevor mein erstes Kind geboren wurde.

    Meine Geburt war für meinen Vater die erste, bei der er dabei war. Er wäre auch bei den anderen Geburten dabei gewesen, aber es ging nicht. Warum? Weiß ich nicht.
    Unter der Geburt hatte sich die Nabelschnur um meinen Hals gelegt, die Herztöne wurden langsamer, ich schluckte Fruchtwasser, alles sehr dramatisch. Als ich dann auf der Welt war, waren meine Eltern überglücklich. Mein Vater soll immer wieder meine Finger und Zehen gezählt haben, um sich davon zu überzeugen, dass alles an mir dran war. Während der Schwangerschaft wurde meinen Mutter gesagt, dass sie damit rechnen soll, dass ich behindert sei. Gründe dafür sind mir auch nicht bekannt. Ihre Erleichterung darüber, dass ich gesund geboren wurde, war groß.

    Ich bekam eine Lungenentzündung und entwickelte eine Neugeborenengelbsucht. Deshalb wurde ich relativ kurz nach der Geburt in ein Kinderkrankenhaus verlegt, meine Mutter blieb im Krankenhaus. Mein Vater musste zurück zu meinen Geschwistern.

    Im Kinderkrankenhaus verbrachte ich die Zeit in einem Brutkasten. (Ich hatte als kleines Kind gar keine Vorstellung, was ein Brutkasten ist.) Gelbsucht und Lungenentzündung hatte ich gut überstanden, aber die Ärzte sagten, dass ich erst nach Hause könnte, wenn ich zugenommen hätte. Aber wenn Fütterungszeiten waren, schlief ich, wenn ich wach und hungrig war, bekam ich nichts zu essen, da die Fütterungszeiten zu Ende waren.

    Meine Eltern konnten es nur schwer aushalten, dass ich nicht bei ihnen war. Sie waren der Auffassung, dass ich abgesehen von der fehlenden Gewichtszunahme kerngesund wäre. Nach vier Wochen fasste mein Vater einen Entschluss, er würde mich nach Hause holen. Meine Mutter nahm Kontakt zum Kinderarzt auf, um zu klären, ob er bereit wäre mich medizinisch zu betreuen. Er stimmte zu.

    Mein Vater fuhr ins Krankenhaus und forderte, dass die Ärzte mich entlassen. Sie verweigerten dies und nach langen Diskussionen und Hartnäckigkeit meines Vaters, blieb ihnen nur mich gegen medizinischen Rat zu entlassen. Da meine Eltern zu dem Zeitpunkt keine Babywanne oder ähnliches hatten (Womit wurden Babys transportiert, bevor es Babyschalen gab?), legte mein Vater mich in eine Einkaufstasche. Jedenfalls erzählte meine Mutter, dass es eine Einkaufstasche war. Vielleicht war es ein Einkaufskorb? Er ging mit mir in der Tasche und die Ärzte verabschiedeten ihn, mit der Aussage, dass er im Fall von Problemen nicht mehr mit mir zurückkommen könne.

    Zuhause war die Freude groß, die Familie war komplett. Und so begann es, mein Leben!