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  • Ein Brief an Frau B.

    Liebe Frau Grundschullehrerin,

    ich glaube, Sie wissen gar nicht, wie gut ich Sie verstehen kann. Es ist ja meine Tochter, die Sie unterrichten. Wir haben beide das gleiche Ziel: Ihre Schülerin/ meine Tochter soll mit Freude lernen. Den Weg dorthin stellen wir uns unterschiedlich vor.

    Schon bevor meine Tochter eingeschult wurde, ahnte ich, dass es mit ihr und der Schule nicht so reibungslos laufen würde. Die Erfahrungen, die ich mit meinem Sohn gesammelt hatte, waren insgesamt unerfreulich. Umso glücklicher waren wir, dass sich seine Situation nach dem Klassenwechsel deutlich entspannte. Das nur am Rande, denn grundsätzlich hatte ich die Hoffnung, dass bei meiner Tochter alles anders sein würde. Ich bin wirklich so, so gerne zur Schule gegangen (jedenfalls zur Grundschule) und ich dachte, das wäre bei meinen Kindern eben auch so. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

    Der Termin am vergangenen Mittwoch war sehr deutlich. Sie sind frustriert. Das haben wir sehr schnell verstanden. Das Thema ist wie in den letzten 10 oder mehr Gesprächen das gleiche. „Ihr Kind arbeitet nicht!“* Neu war, dass Sie fast durchgehend geredet haben. Also, geredet klingt zu nett, Sie haben sich ausgekotzt. 30 Minuten haben Sie uns erklärt, was unsere Tochter alles nicht macht, obwohl sie dazu absolut in der Lage ist. „Warum ist das so?“, fragen Sie meine Tochter, die keine Antwort darauf geben kann. Also wenden Sie sich an mich: „Was sagen Sie dazu?“ Ja, was soll ich sagen, was ich nicht schon in den letzten 10 oder mehr Gesprächen gesagt habe? So versuche ich so diplomatisch wie eben möglich zu erwidern, dass ich nicht damit gerechnet habe, dass meine Tochter, gerade in dieser Situation, erklären kann, was wir uns seit mehr als zwei Jahren fragen. Meine Antwort macht Sie gar nicht glücklich. Ich vermute, Sie würden jetzt gerne in die Tischkante beißen oder schreiend aus dem Klassenzimmer rennen, aber Sie versuchen ruhig zu bleiben und antworten mir: „Sie verstehen Ihre Tochter also?“

    Ja, genau. Ich verstehe mein Kind, und wenn ich es nicht verstehe, versuche ich es, und wenn das nicht hilft, denke ich „Sie ist, wie sie ist.“ und atme. Bitte trösten Sie sich mit dem Gedanken, dass Sie nur noch zwei Jahre lang die Lehrerin meiner Tochter sind. Zwei Jahre gehen schnell vorbei. Ich bin mir sicher, Sie schaffen das! Und ich bin mir sicher, meine Tochter schafft das auch!

    Denn, wissen Sie, so lange ich lebe, für immer, bin ich die Mutter meiner Tochter. Und auch, wenn ich mir immer wieder ein „Ja!“ wünsche, wo mir meine Tochter ein „Nein!“ entgegenschmettert, wird meine Tochter so sein, wie sie ist. Es hilft kein Meckern, kein Drängen und kein Schreien. Ja, natürlich habe ich schon gemeckert, gedrängelt und geschrien und werde dies in Zukunft auch wieder tun, aber geholfen hat es nicht!

    Vielleicht werde ich Sie eines Tages treffen und wir können gemeinsam über die Grundschulzeit meiner Tochter lachen. Vielleicht laufen Sie aber auch schnell weg, wenn Sie mich sehen und denken sich, dass die 10 oder mehr Gespräche mit mir für ein ganzes Lehrerinnenleben reichen!

    Herzliche Grüße,
    Jennifer Heart

    *Sie „arbeitet“, aber nicht so, wie es sich die Lehrerin vorstellt.

  • Allein.

    „Bleib erst mal allein!“, sagt meine Freundin.

    Ich weiß, wie es sich anfühlt, alleine zu sein. Ich habe meine Kinder, ich habe Freundinnen und wenn ich mit ihnen zusammen bin, fühlt sich das gut an, aber diese Lücke in mir können sie nicht schließen.

    „Du musst erst mal lernen alleine zurechtzukommen!“, sagt meine Freundin.

    Gibt es Menschen, die mit allem, allein zurechtkommen können oder wollen? Ich will das nicht mehr. Ich habe das in den vergangenen Jahren versucht. Unsere Leben, mein Leben alleine regeln. Überhaupt den Gedanken zuzulassen, dass ich mich in meiner Ehe einsam fühle, hat sehr viel Zeit in Anspruch genommen. Zu Beginn war der Gedanke  winzig klein, so dass ich ihn immer wieder verdrängen konnte. Aber auf Dauer hat es mich so wahnsinnig viel Kraft gekostet, so viel Kraft.

    Und jetzt bekomme ich also den Ratschlag alleine zu bleiben, erst mal lernen es alleine zu schaffen. Danke! Das ist genau das, was ich in der Vergangenheit gemacht habe, was mich hierhin führte.

    Ja, wir können darüber diskutieren, ob es gut für mich ist, mich mit diesem Mann zu treffen. Aber vorneweg: Ich will nicht bei ihm einziehen. Ich will ihn nicht heiraten. Ich will kein Kind von ihm.

    Ich will mich in der Zeit mit ihm geborgen fühlen, einfach nur ich sein und so gesehen werden. Ja, klar, so weit wie das möglich ist, wenn man sich kaum kennt.

    Ich will in seinen Armen einschlafen und mich spüren, ihn an mir spüren. Vielleicht ist das naiv. Vielleicht ist das dumm.

    Aber das ist, was ich will, was ich brauche, und das kann er mir geben. Heute. Vielleicht auch morgen. Und danach? Ich weiß es nicht.

    Ich weiß nur, dass die nächsten Schritte unendlich schwerer werden, wenn ich mich alleine fühle.

    Also lass mir meine Illusion, lass mir meinen Wunsch, mich mit ihm ganz zu füllen – nicht mehr alleine. Auch wenn du nicht einverstanden bist.

    Es ist ein gutes Gefühl, eine Freundin zu haben, die mich unterstützen will. Ich hätte nicht erwartet, wie sehr mir meine Freundinnen helfen werden und weiterhin helfen möchten, aber diese Lücke in mir können sie nicht schließen.

  • Leben!

  • Zum ersten Mal.

    „Ziehen Sie alleine um?“ fragt mich die Beamtin im Rathaus.

    Zum ersten Mal im Leben in einer öffentlichen Toilette weinen.

    Zum ersten Mal im Leben alleine wohnen.

  • Kindheitserinnerungen

    „Mama, erzähl uns etwas lustiges aus deiner Kindheit!“ rufen meine drei Kinder. Ich überlege, ich versuche mich zu erinnern, ich wühle in meinem Gedächtnis. Wo sind sie? Meine lustigen Kindheitserinnerungen? Und schließlich sind es doch immer wieder die selben Geschichten, die ich erzähle und zwar so, dass sie lustig sind.

    Ich rede nicht gerne über meine Kindheit. Es gibt sie, die guten Erinnerungen, irgendwo, aber es gibt auch die anderen. Die anderen, von denen ich nichts hören und sehen will. Ich kann mich nicht erinnern und dafür gibt es Gründe. Es wird einen Tag geben, an dem ich bereit sein werde, die Hoffnung auf eine bessere Vergangenheit aufzugeben. Heute ist nicht dieser Tag.

    ****

    So bin ich immer wieder dankbar, wenn Momente, in denen ich mich gut gefühlt habe, in meine Erinnerung zurückkehren. Einer dieser Momente: ich beobachtete meine Mutter still und leise, wie sie Care-Pakete für unsere Verwandtschaft in der DDR packt. Mit so viel Sorgfalt hat sie diese Care-Pakete gepackt. Sie sammelte die leeren Plastikdosen des Zitronentee-Granulats, füllte Waschmittel hinein und legte die Dosen in den Karton. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es ein Land auf der Welt gibt, in dem sich jemand über Waschmittel freut. Sie verpackte es auf diese Weise, damit die Paket-Kontrolleure es nicht klauten. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es ein Land gibt, in dem Paket-Kotrolleure Waschmittel klauen. Sie legte noch Kaffee dazu. Vielleicht auch Seife? Kleidung?

    Ich weiß es nicht mehr. Wenn der Karton bis auf die letzte Lücke gefüllt war, wickelte sie es in die erste Lage Packpapier. Mit großer Sorgfalt band sie das Paketband herum, meterweise. Wie ein Spinnennetz. Die zweite Lage Packpapier folgte, anschließend wieder Paketband. So viele Knoten, die sie band. Es war wie ein Ritual, bei dem sie immer das gleiche Vorgehen einhielt. Eine dritte Lage, eine vierte Lage. Wie viele Lagen es waren, kann ich nicht mehr sagen, aber ich weiß sehr genau, wie wichtig es ihr war, das fertige Paket auf diese behutsame und akkurate Weise zu packen. Vielleicht hoffte sie, dass die Kontrolleure das Paket, das sie mit so viel Mühe gepackt hatte, nicht öffnen würden.

    ****

    Diese Erinnerung kehrte zurück, als ich im Blog von Caspar C. Mierau darüber las, dass er und seine Frau unter einem Socken-Notstand „leiden“. Ich kam auf die Idee ein Care-Paket zu packen und es „in den Osten“ (nach Berlin) zu schicken. Da fiel mir meine Mutter ein. Die DDR gibt es schon lange nicht mehr. Ich bin lange kein Kind mehr.

    ****

    Vielleicht finde ich einen Weg zu meinen Erinnerungen. Vielleicht werde ich auf vorsichtige Weise jeden Knoten im Paketband lösen. Behutsam die erste Lage Packpapier entfernen. Ich werde vielleicht eine Pause machen. Durchatmen. Schauen, was vor mir liegt und vielleicht traue ich mich die zweite Lage zu entfernen. Vielleicht löst sich mit jedem Knoten, den ich öffnen werden, auch etwas in mir.

  • #MeinTagohnemich

    Auf Mareices Blog kaiserinnenreich.de habe ich von Aktion A Day Without A Woman gelesen und möchte mich daran beteiligen. Ich werde nicht streiken, möchte aber von Tagen ohne mich erzählen.

    Ich habe innerhalb von vier Jahren drei Kinder bekommen. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass das mein Leben komplett auf den Kopf gestellt hat. Die ersten Jahr mit Kind/ern waren eine absolute Ausnahmezeit, geprägt von ständiger Müdigkeit, Überforderung und einem stetig wachsenden Gefühl der inneren Ohnmacht.

    Durch meine Erfahrungen in meiner Ursprungsfamilie fehlten mir vor allem Vorbilder. Mit den Kindern zu leben, bedeutete für mich immer wieder innere Kämpfe auszutragen. Bin ich eine gute Mutter? Mache ich es besser als meine Eltern? Werde ich den Bedürfnissen der Kinder gerecht? Kann ich die Erwartungen von Außen erfüllen? Diese Grübeleien sind pures Gift für die Seele, sie zermürben.
    Mein Therapeut sagte zu Beginn der Therapie, dass ich eine Problemfülle mit mir trage. Er wollte das gerne zurücknehmen, aber ich fand es passend, dass er es so klar aussprach. Ich habe mir von ihm bisher keine Diagnose nennen lassen, ich bin keine Diagnose, aber es gibt viele Punkte in diesem Artikel, die mit meinem Erleben übereinstimmen.

    Bevor ich Mutter wurde, schaffte ich es gut, mein Leben zu leben. Ich hatte das Gefühl, ich hätte es unter Kontrolle. Jetzt weiß ich, dass ich ‚die Dinge‘ verdrängt habe. Mit den Kindern blieb nicht mehr die Kraft, diese Verdrängungsmechanismen aufrecht zu erhalten. Meine Fassade begann zu bröckeln.

    Und so gab es immer mehr Tage ohne mich. Ich hatte mich aufgelöst, war weg, fühlte mich nicht mehr. Statt meiner war dort ein Roboter, der so gut es ging funktionierte. Arbeiten, Organisation des Familienalltag, Elternsprechtage, Kinderarzttermine, Kindergeburtstage, Feiertage, Schulanmeldung, Haushalt etc. Ein Hamsterrad, das nicht aufhörte sich zu drehen. Ich war so überfordert, so sehr am Limit, dass ich nicht in der Lage war, meine Gefühle zu formulieren. Nach Hilfe fragen, konnte ich nicht. Und so wusste niemand von den Tagen ohne mich.

    Mein Partner merkte nichts und das schmerzt mich so sehr.

    Aus einer Vielzahl von Gründen werden überhöhte und unrealitsche Erwartungen an Mütter gestellt. Mütter sind stark. Mütter schaffen alles. An diesen Erwartungen wäre ich beinahe zerbrochen. Für immer weg. Für immer nur noch Tage ohne mich.

    Seit fast vier Jahren versuche ich meine Vergangenheit ‚aufzuarbeiten‘. Es ist ein schmerzhafter Prozess. Es braucht Zeit. Ich brauche Geduld. Seit einigen Monaten geht es bergauf. Es ist unendlich kostbar für mich, dass ich positive Veränderungen spüre, dass ich mich wieder spüre kann. Ich wünsche mir für die Zukunft immer mehr Tage mit mir, ganz nah bei mir, mit meinen Kindern, mit meinen Freundinnen.

  • Es gibt noch einen anderen Grund.

    „Es gibt noch einen anderen Grund, warum ich hier bin“, sagte sie zögerlich. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich das sagen kann.“

    Er schaute erwartungsvoll und nickte ihr aufmunternd zu.

    „Ich fühle mich zu Ihnen hingezogen.“

    Schweigen.

    „Das ist gut, dass Sie das sagen.“

    Oh, wie sehr sie dieses „Psychologen-Wording“ hasste. Das ist gut, dass Sie das sagen… Was soll das denn bedeuten? Was er anschließend sagte, hörte sie zwar, konnte sich die Worte aber nicht merken. Es war, da war sie sich sicher, eine sehr wertschätzende Abfuhr. Sie musste lächeln. „Typisch, Psychologe.“, dachte sie. „Diese Formulierungen! Kein Mensch würde auf diese Offenbarung, so reagieren. Nur Psychologen, Therapeuten, vielleicht auch Sozialarbeiter, aber sonst niemand!“ Es war keine Überraschung für sie, ihr war schon vorher vollkommen bewusst, dass ihre Verliebtheit keine Zukunft hatte. Deswegen sagt sie, ein wenig bockig:

    „Ich bin ja nicht…“, und geriet ins Stocken.
    „Ja, Sie sind nicht…“, erwiderte er.
    „Was bin ich nicht?“
    „Das, was Sie sagen wollten.“
    „Was wollten Sie sagen?“, fragte sie ihn und schaut ihm in die Augen.
    „Realitätsfern.“

    Nein, das war sie wirklich nicht.

    „Sie sind es Ihren Kindern, Ihrem Mann und den 19 Jahren schuldig, über Ihre Entscheidung nachzudenken.“, führte er weiter aus.
    „Das haben Sie ja nett gesagt, ich bin es meinen Kindern, meinem Mann und den 19 Jahren schuldig.“ Sie verdrehte ein wenig die Augen.
    „Vor allen Dingen sind Sie es sich selber schuldig.“ ergänzte er. „Es ist Ihre Entscheidung. Ob sie richtig ist oder falsch, kann ich nicht sagen. Nein, Ihre Entscheidung wird weder falsch noch richtig sein. Es wird Ihre Entscheidung sein.“

    Sie lächelt ein wenig gequält. „Versucht er mir ein schlechtes Gewissen zu machen?“, fragte sie sich. „Ich bin es den 19 Jahren schuldig? Meinen Kindern? Weder falsch noch richtig? Wahrscheinlich sagt er gleich so etwas wie, jede Entscheidung ist gut.“

    „Ich mache mir Sorgen um Sie.“

    Sie schaute ihn erstaunt an.

    „Ich mache mir Sorgen um Sie.“ wiederholte er. „Denken Sie vor allem an sich selbst. Sie brauchen diese Stabilität. Diesen Fels in der Brandung. Ich bin mir nicht sicher, wie es Ihnen ohne das ergehen wird.“

    Sie hatte wirklich nicht damit gerechnet, dass er ihr um den Hals fallen würde. Natürlich ist für sie unter diesen Umständen eine neue Beziehung, eine Liebschaft, unmöglich und schon gar nicht mit ihm, auch wenn sie in ihn verliebt ist. Aufrichtig verliebt. Es war keine Schwärmerei eines kleines Mädchens. Keine Fantasterei einer traumatisierten Frau, die sich in einen Psychologen ‚verguckte‘. Seit mehreren Jahren spürte sie diese Verliebtheit, mal mehr, mal weniger. Sie hatte oft und lange mit ihren Freundinnen gesprochen, weil sie hoffte, dass sie dann vergeht. Sie hatte mit ihren Therapeuten darüber gesprochen, weil sie hoffte, dass sie dann verschwindet. Aber diese Verliebtheit war immer noch da.
    Natürlich war ihr klar, dass er diese Verliebtheit nicht erwidern würde. Keine Umarmung, keine ersten vorsichtigen Küsse, keine behutsamen Berührungen, das wusste sie, aber dass er jetzt versuchte, sie vom Bestand ihrer Ehe zu überzeugen, das hatte sie ebenfalls nicht erwartet.

    „Ich glaube, dass es viele Dinge gibt, die Sie mit Ihrem Ehemann verbinden. Auch wenn Sie das im Moment nicht sehen können. Sie bewerten es auf diese Weise, aber überdenken Sie diese Bewertung. Ich mache mir Sorgen um Sie.“

    Ja, natürlich war er auch ein Grund für die Trennung. Einer von vielen. Im Verlauf der letzten Monate hatte sich diese Entscheidung entwickelt. Kleine Bruchstücke, die zum Schluss ein komplettes Mosaik ergaben. Ihr Mann. Ein Fels in der Brandung. Während des letzten Termins sagte sie scherzhaft zu ihm:

    „Aus ihm wird kein rolling stone mehr.“
    „Möchten Sie denn einen rolling stone haben?“ fragte er da zurück.

    Nein, das wollte sie sicher nicht. Aber auf keinen Fall wollte sie weiterhin das Gefühl haben, dass sie ihren ihr angetrauten Felsen Tag und Nacht mit sich tragen muss. Es war ihr einfach zu anstrengend geworden. Die Kinder versorgen, die viele Zeit und Kraft, die sie für sich brauchte, um weitermachen zu können und dann noch ihn in Bewegung halten. Sie konnte nicht mehr und sie wollte nicht mehr.

    Nach dem kurzen Abschied schaute er ihr nach, wie sie den Flur entlang ging. Was er dachte, wird sie nie erfahren.

  • Die Lücke

    Meine Schwiegermutter ist im Dezember verstorben. Bei der Beisetzung sagte der Pastor, dass sie eine Lücke hinterlässt, die nicht geschlossen werden kann.

    Der Hamster meiner Tochter ist gestorben. Er ist während einer OP verstorben, sein linkes Auge musste entfernt werden. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob es moralisch vertretbar ist, ein so kleines Tier operieren zu lassen. Aber es ist so: er war mir und der ganzen Familie ans Herz gewachsen. Die Tierärztinnen hatten sich gemeinsam beraten und kamen zu dem Schluss, dass die OP notwendig wäre, da er Schmerzen hatte und mit dem kranken Auge nicht hätte weiterleben können. Die Alternative wäre gewesen, ihn einschläfern zu lassen.

    Nachmittags bin ich mit meinen Kindern zur Tierarztpraxis gefahren. Die Tierärztin erklärt so behutsam, warum er gestorben ist, dass ich fast weinen muss. Vier traurige Gestalten, die um einen Hamster trauern. Ich sage zu ihr: „Er war ein besonders lieber Hamster!“ Und dass dieser Satz vielleicht als lächerlich erscheint, ändert nichts daran, dass er wahr ist. Meine Tochter weint und wir verlassen die Praxis mit Krümel, dem verstorbene Zwerghamster, der eine Lücke hinterlässt, die klein ist, aber sie ist da.

    Meine Schwiegermutter war ein so liebevoller Mensch. Der liebevollste, den ich kannte. Obwohl ich keine sehr enge Beziehung zu ihr hatte, wusste ich, dass sie immer da ist, immer helfen wird, so weit sie kann. Sie konnte sich über die kleinen Dinge freuen. Von Herzen. Bei einer Trauerfeier freute sie sich darüber, dass ihr Käse-Sahne-Kuchen so sehr gelobt wurde und ihre Kuchenplatte, die erste war, die leer war. Sie freute sich so sehr, als wäre die Trauerfeier ein Backwettbewerb und sie hätte den ersten Platz gewonnen. Ich fand das irgendwie unpassend und habe innerlich mit den Augen gerollt, aber so war sie. Sie hat das Leben gefeiert.

    Es passiert so viel Scheiße auf der Welt, dass ich es manchmal kaum aushalte. Ihre Liebe fehlt so sehr.

  • Erwartungen

    Heute Morgen habe ich einen Beitrag von Nina vom Blog FrauPapa zum Thema „Von den Eltern entfremdet“ bei tollabea gelesen. Vorab möchte ich sagen, dass ich Nina von Herzen wünsche, dass ihre Eltern sich ihr und ihrer Familie wieder annähern werden!

    Obwohl ihre Situation ganz anders ist als meine, gibt es eine Verbindung zwischen unseren Erfahrungen. Wir haben Eltern, die es (noch) nicht schaffen, ihre Erwartungen zu überdenken und ggf. über Bord zu werfen. Grundsätzlich ist es nicht falsch Erwartungen zu haben. Es wird aber problematisch, wenn sich der persönliche Horizont so sehr eingrenzt, dass man nur noch in der Lage ist, von sich und seinen Wünschen auf andere zu schließen. Der Verlust von Empathie.

    Wenn Eltern mehr oder weniger offensiv fordern, dass sich ihre Kinder ihren Erwartungen zu beugen haben, überschreiten sie damit eine Grenze.

    Bei mir führte dieses Verhalten meiner Eltern dazu, dass ich mich jahrzehntelang fragte, was mit mir nicht in Ordnung ist. Ich dachte, dass sie mich lieben werden, wenn ich mich noch etwas mehr anstrengen würde; mein Ziel war es, ihren Ansprüchen zu genügen. Ich war aber nie gut genug für sie.
    Nach einem 3/4 Jahr Therapie stellte ich mir vergangen Dienstag zum ersten Mal in meinem Leben die Frage, was eigentlich mit meinen Eltern nicht stimmt, dass sie mich nicht lieben können.

    Ich habe sehr lange, viel zu lange, gehofft, dass meine Eltern mich irgendwann verstehen werden. Ich konnte die Hoffnung nicht aufgeben, dass ich ihnen eines Tages wichtiger sein werde, als ihre Erwartungen, ihre Vorstellung davon, wie ich zu sein habe.

    Itzik Manger findet in seinem Gedicht Worte, in denen ich mich wiederfinden kann. Die letzte Strophe geht direkt in mein Herz.

    There is a tree that stands

    There is a tree whose branches
    Bend across the road.
    All its birds have flown away
    Leaving not a bird.

    The tree, abandoned to the storm,
    Stands there all alone:
    Three birds east and three birds west –
    The rest have southward flown.

    I say to my mother,
    If you won’t meddle, please,
    I’ll turn myself into a bird
    Before your very eyes.

    I’ll sit all winter on the tree
    And sing it lullabies.
    I’ll rock it and console it
    With lovely melodies.”

    Tearfully, my mother says,
    Don’t take any chances.
    God forbid, up in the tree
    You’ll freeze among the branches.”

    Mother, please don’t cry,” I say,
    Ah, mother, don’t be sad.”
    But on the instant I transform
    Myself into a bird.

    My mother says, “Oh, Itzik, love…
    In the name of God
    Take a little scarf with you
    To keep from catching cold.

    And dear, put your galoshes on.
    The winter’s cold and aching.
    Be sure to wear your fleece-lined cap.
    Woe’s me, my heart is breaking.

    And, pretty fool, be sure to take
    Your woolen underwear
    And put it on, unless you mean
    To lie a corpse somewhere.”

    I try to fly, but I can’t move…
    Too many, many things
    My mother’s piled on her weak bird
    And loaded down my wings.

    I look into my mother’s eyes
    And, sadly, then I see
    The love that won’t let me become
    The bird I want to be.

    Quelle: The World According to Itzik: Selected Poetry and Prose, Leonard Wolf, editor, 2002

  • Gratwanderung und Bitterkeit

    Vor drei Jahren habe ich meiner Schwester einen Brief geschrieben. Einen Abschiedsbrief. Einen beschissenen Brief. Eine feige Art Lebewohl zu sagen.

    Ich finde bis jetzt nicht die Worte, die erklären könnten, warum ich den Kontakt zu ihr abgebrochen habe. Mir war klar geworden, wie sehr wir uns voneinander entfernt hatten. Ich habe sie immer weniger verstanden. Ich begann damit ihr Dinge zu verschweigen, weil ich mich nicht ihrer Beurteilung aussetzen wollte. Zum Schluss hatte ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich an sie dachte, gefolgt von dem Gedanken, dass ich mich mal wieder bei ihr melden müsste. Ich möchte nicht von Schuld sprechen oder Gründe dafür nennen, warum mir der Kontakt so schwer fiel. Das wäre ungerecht. Aber mir war klar geworden, dass ich für mich und mein Wohlergehen verantwortlich bin und traf daraufhin eine durch und durch egoistische Entscheidung, die sich zwangsläufig auch auf meine Kinder auswirkte.

    Meine Schwester hat sich immer sehr liebevoll um die Kinder gekümmert. Sie hatten eine sehr vertrauensvolle Beziehung zueinander. Besonders meine mittlere Tochter litt darunter, ihre Tante nicht mehr zu sehen. Ich habe versucht den Kindern zu erklären, dass sie ihre Tante sehen können, auch wenn ich keinen Kontakt zu ihr habe. Es gab Annäherungsversuche durch die Kinder, die erfolglos blieben. Ich habe diese Versuche nicht aktiv unterstützt, habe sie aber zugelassen, weil es den Kindern wichtig war. Für mich eine Gratwanderung.

    Gestern konnten meine Töchter ihre Tante besuchen. Spontan und unerwartet. Ja, und ich freute mich darüber, weil die beiden so glücklich waren, so sehr strahlten, als sie zurückkamen, aber es meldeten sich auch ungute Gefühle. Meine Schwester erkundigte sich per SMS, der ersten seit drei Jahren, ob die zwei gut Zuhause angekommen wären. „Ja.“ war meine Antwort. Ich löschte die Nachrichten und die Nummer aus dem Protokoll. Kurz darauf traf eine weitere SMS ein. Und da war es, das Gefühl, die Angst davor, dass die SMS von ihr ist. Die Gewissheit, dass ich das nicht aushalten kann. Die Angst davor, dass sie sich meldet, die Angst davor wieder eine Rolle zu spielen, damit es sich für sie gut anfühlt. Ich las die Nachricht und sie fragte mich, ob sie die Kinder in zwei Wochen sehen kann. In meinem Kopf drehte sich alles. Dieser kaum auszuhaltende Zwiespalt. Das zu tun, was für mich richtig ist, und trotzdem die Bedürfnisse meiner Kinder anzuerkennen und diesen gerecht zu werden.

    Ich bat meinen Mann ihr zu schreiben, dass ein Treffen in Ordnung ist und dass sie sich in Zukunft nur noch an ihn wenden soll.

    Eine halbe Stunde später bekam ich wieder eine SMS. Von ihr. Der Inhalt kurz. Zwei Worte. „Erbärmliche F*tze“