„Es gibt noch einen anderen Grund, warum ich hier bin“, sagte sie zögerlich. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich das sagen kann.“
Er schaute erwartungsvoll und nickte ihr aufmunternd zu.
„Ich fühle mich zu Ihnen hingezogen.“
Schweigen.
„Das ist gut, dass Sie das sagen.“
Oh, wie sehr sie dieses „Psychologen-Wording“ hasste. Das ist gut, dass Sie das sagen… Was soll das denn bedeuten? Was er anschließend sagte, hörte sie zwar, konnte sich die Worte aber nicht merken. Es war, da war sie sich sicher, eine sehr wertschätzende Abfuhr. Sie musste lächeln. „Typisch, Psychologe.“, dachte sie. „Diese Formulierungen! Kein Mensch würde auf diese Offenbarung, so reagieren. Nur Psychologen, Therapeuten, vielleicht auch Sozialarbeiter, aber sonst niemand!“ Es war keine Überraschung für sie, ihr war schon vorher vollkommen bewusst, dass ihre Verliebtheit keine Zukunft hatte. Deswegen sagt sie, ein wenig bockig:
„Ich bin ja nicht…“, und geriet ins Stocken.
„Ja, Sie sind nicht…“, erwiderte er.
„Was bin ich nicht?“
„Das, was Sie sagen wollten.“
„Was wollten Sie sagen?“, fragte sie ihn und schaut ihm in die Augen.
„Realitätsfern.“
Nein, das war sie wirklich nicht.
„Sie sind es Ihren Kindern, Ihrem Mann und den 19 Jahren schuldig, über Ihre Entscheidung nachzudenken.“, führte er weiter aus.
„Das haben Sie ja nett gesagt, ich bin es meinen Kindern, meinem Mann und den 19 Jahren schuldig.“ Sie verdrehte ein wenig die Augen.
„Vor allen Dingen sind Sie es sich selber schuldig.“ ergänzte er. „Es ist Ihre Entscheidung. Ob sie richtig ist oder falsch, kann ich nicht sagen. Nein, Ihre Entscheidung wird weder falsch noch richtig sein. Es wird Ihre Entscheidung sein.“
Sie lächelt ein wenig gequält. „Versucht er mir ein schlechtes Gewissen zu machen?“, fragte sie sich. „Ich bin es den 19 Jahren schuldig? Meinen Kindern? Weder falsch noch richtig? Wahrscheinlich sagt er gleich so etwas wie, jede Entscheidung ist gut.“
„Ich mache mir Sorgen um Sie.“
Sie schaute ihn erstaunt an.
„Ich mache mir Sorgen um Sie.“ wiederholte er. „Denken Sie vor allem an sich selbst. Sie brauchen diese Stabilität. Diesen Fels in der Brandung. Ich bin mir nicht sicher, wie es Ihnen ohne das ergehen wird.“
Sie hatte wirklich nicht damit gerechnet, dass er ihr um den Hals fallen würde. Natürlich ist für sie unter diesen Umständen eine neue Beziehung, eine Liebschaft, unmöglich und schon gar nicht mit ihm, auch wenn sie in ihn verliebt ist. Aufrichtig verliebt. Es war keine Schwärmerei eines kleines Mädchens. Keine Fantasterei einer traumatisierten Frau, die sich in einen Psychologen ‚verguckte‘. Seit mehreren Jahren spürte sie diese Verliebtheit, mal mehr, mal weniger. Sie hatte oft und lange mit ihren Freundinnen gesprochen, weil sie hoffte, dass sie dann vergeht. Sie hatte mit ihren Therapeuten darüber gesprochen, weil sie hoffte, dass sie dann verschwindet. Aber diese Verliebtheit war immer noch da.
Natürlich war ihr klar, dass er diese Verliebtheit nicht erwidern würde. Keine Umarmung, keine ersten vorsichtigen Küsse, keine behutsamen Berührungen, das wusste sie, aber dass er jetzt versuchte, sie vom Bestand ihrer Ehe zu überzeugen, das hatte sie ebenfalls nicht erwartet.
„Ich glaube, dass es viele Dinge gibt, die Sie mit Ihrem Ehemann verbinden. Auch wenn Sie das im Moment nicht sehen können. Sie bewerten es auf diese Weise, aber überdenken Sie diese Bewertung. Ich mache mir Sorgen um Sie.“
Ja, natürlich war er auch ein Grund für die Trennung. Einer von vielen. Im Verlauf der letzten Monate hatte sich diese Entscheidung entwickelt. Kleine Bruchstücke, die zum Schluss ein komplettes Mosaik ergaben. Ihr Mann. Ein Fels in der Brandung. Während des letzten Termins sagte sie scherzhaft zu ihm:
„Aus ihm wird kein rolling stone mehr.“
„Möchten Sie denn einen rolling stone haben?“ fragte er da zurück.
Nein, das wollte sie sicher nicht. Aber auf keinen Fall wollte sie weiterhin das Gefühl haben, dass sie ihren ihr angetrauten Felsen Tag und Nacht mit sich tragen muss. Es war ihr einfach zu anstrengend geworden. Die Kinder versorgen, die viele Zeit und Kraft, die sie für sich brauchte, um weitermachen zu können und dann noch ihn in Bewegung halten. Sie konnte nicht mehr und sie wollte nicht mehr.
Nach dem kurzen Abschied schaute er ihr nach, wie sie den Flur entlang ging. Was er dachte, wird sie nie erfahren.
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