Der Anzug

CN: sexualisierte Gewalt

Mein Vater war mein Held. Ich habe meinen Vater so sehr geliebt. Für mich war er ein Held, der jeden Morgen in seinem Anzug das Haus verließ, und jeden Abend erst spät wieder nach Hause kam. Ich war der Überzeugung, dass er in dieser Zeit die tollsten Abenteuer bestreiten würde. Wie gerne, wäre ich doch auch weggewesen. Nicht zu Hause. Nicht in Leichlingen. Sondern weg. Aber immer diese Angst. Immer Angst.

In meinen Augen war mein Vater mutig. Das was mir so sehr fehlte, hatte er. Mut. Dachte ich.

Mein Vater legte sehr viel Wert auf ein gepflegtes Äußeres. Er hatte immer eine große Auswahl an Anzügen, Oberhemden und Krawatten. Insgesamt alles in klassischen Farben und untereinander gut kombinierbar. Jeden Morgen frisch rasiert und mit Aftershave balsamiert. Niemand roch so wie mein Vater. Jeden Morgen zum Abschied einen Kuss auf die Wange, der unangenehme Geschmack des Aftershaves hing lange an meinen Lippen.

„Papa, nimm mich doch mit. Bitte, Papa. Lass mich nicht alleine.“

Es wird oft die Geschichte erzählt, das Frauen auf einen strahlenden Ritter warten, der auf seinem stattlichen Ross herbeigeeilt kommt, um sie zu retten.

Ich musste nicht auf meinen Ritter warten. Mein Vater war mein Ritter. Doch ich wartete. Ich warte darauf, dass er mich retten würde. In seiner glänzenden Rüstung. Ich habe meinen Vater so geliebt. Ich hätte alles für ihn getan.

Ich wartete vergeblich. Mein Ritter, den ich so liebte, der mich hätte retten können, für den ich alles getan hätte, für den ich alles tat, der ließ mich sitzen.

„Papa, bitte, Papa. Bitte nimm mich mit. Ich mache alles, was du willst.“

Mein Vater, der mich der Sage nach, gegen den Widerstand der Ärzte aus der Kinderklinik abholte und mich, den Säugling, mangels Babywiege in einer Einkaufstasche nach Hause brachte, der mich der Sage nach, bereits einmal gerettet hatte, verweigerte den weiteren Dienst.

Und wie sehr ich mich doch anstrengte, geliebt zu werden. Meine älteste Schwester sprach verächtlich darüber. Sie verachtete mich dafür, wie sehr ich mich bei meinem Vater anbiederte. Das einzige Mittel, über das ich verfügte, war die Auflösung. Ich löste mich auf, damit es meinem Vater leicht fiel, mich zu lieben.

Meine Mutter war eifersüchtig. Meine eigene Mutter war eifersüchtig darauf, dass mein Vater mich augenscheinlich liebte. Meine Mutter ließ mich ihre Eifersucht spüren, weil ich mich auflöste und nur das eine Bedürfnis verfolgte, von meinem Vater geliebt zu werden. Auf was hätte sie denn eifersüchtig sein können? Da war doch nichts außer meiner Sehnsucht, meiner Verzweiflung, meinem grenzenlosen Bemühen, um dem einem Vater zu gefallen.

Doch trotz diesem harten Bemühens, diesem absolutem Selbstverzicht, kam keine Rettung. Es gab den Ritter, es gab die Rüstung, es gab ein Ross – einen Volkswagen. — Doch keine Rettung.

Die größte Enttäuschung in meinem Leben ist mein Vater.

„Papa, Papa, Papa!“

Mein Vater, der mich hätte retten können. Mein Vater, der mich nicht rettete. Mein Vater, der mich zurückließ. Mein Vater, der tagsüber in sein Büro floh und der mich nicht mitnahm.

Papa, ich habe dich nicht geliebt, damit auch du mich missbrauchst. Was seid ihr für Eltern? Was seid ihr für Menschen? Ich war verfügbar, ich war so hungrig, ich hatte solche Sehnsucht, ich war gierig nach Liebe.

Warum? Warum du? Warum ich? Die kleinste, die schwächste, die leiseste. Ich. Dein kleinstes Kind, wie du immer sagtest.

„Das ist Jennifer. Mein kleinstes Kind.“

Es war keine Gegenwehr zu erwarten und niemand würde mir glauben. Ich war verfügbar. Ich war perfekt. In jeder Hinsicht war ich perfekt, um Opfer zu sein.

Dein jüngstes Kind, das perfekte Opfer. Mit all meiner Sehnsucht, mit dem großen Wunsch von dir geliebt zu werden, in all meiner verzweifelten Anbiederung. Vielleicht war es einfach, mich zu missbrauchen. Vielleicht erschien es dir in einem ganz verrückten Licht sogar legitim. Ich flehte, ich bettelte um Zuwendung.

Meine große Sehnsucht nach Liebe, war nicht die Sehnsucht, meine Liebe zu missbrauchen. Diese Art von Zuwendung war Gewalt. Ich bin so enttäuscht von dir. Du bist für mich die größte Enttäuschung in meinem ganzen Leben.

Du hättest mich retten können und stattdessen hast du mich ausgenutzt. Du hast meine Liebe gegen mich verwendet. Du hast meine Sehnsucht nach Zuwendung ausgenutzt, um dich an mir zu vergehen.

Ich bin so traurig.

Es hätte alles so anders sein können. Es ist bitter. Der bittere Geschmack deines Aftershaves, der an meinem Lippen klebt.

Du bist nur eine Luftnummer. Du hättest in meinem Leben der Unterschied sein können. Du hättest in meinem Leben und dem Leben meiner Geschwister der Unterschied sein können. Stattdessen. Stattdessen.

Du bist ein Schlappschwanz. Du bist eine Enttäuschung. Du bist ein Versager. Du hast uns die Rettung versagt. Du hast mir nicht nur die Rettung versagt, du hast mir meinen Vater versagt.

Dich zu lieben, war eine reine Enttäuschung. Ich spürte die Eifersucht meiner Mutter, ich spürte die Verachtung meiner ältesten Schwester und ich erlebte deinen Missbrauch. Das war der Lohn meiner bedingungslosen Liebe.

Du bist nur gut darin, zu fliehen. Du hast dich in deine Demenz gerettet. Und ich bin noch hier. Ich warte schon lange nicht mehr auf dich. Und ich will dich nicht mehr lieben. Du hattest meine Liebe nie verdient.

Was du getan hast, darf kein Vater tun.

Herzen brechen still und leise. Mein Herz brach wie ich war. Still und leise war ich, Papa. Weil ich mich so nach deiner Liebe sehnte. Nie habe ich „Nein.“ zu dir gesagt, Papa. Kein Nein. Immer Angst. Immer Angst, deine Liebe zu verlieren.

Ich wollte geliebt werden. Ich war ein Kind. Ich war dein Kind! Wieso hast du mich nicht geliebt, wie ein Vater sein Kind zu lieben hat?

Und wenn es dafür einen Grund gibt, warum hast du mich, warum hast du meinen Körper missbraucht? Warum, Papa?

Papa, sag mir das! Papa, warum schweigst du immer? Papa, hast du mir denn nichts zu sagen?

Ich höre dein Schweigen. Ein Schweigen, das kaum auszuhalten ist. Ein Schweigen, das schmerzt. Papa, warum?

 


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