Im Dezember 1998 verreiste ich mit meinen Eltern und meiner Schwester nach Gozo (die Nachbarinsel von Malta). Das war zu einer Zeit, zu der ich zu meinen Eltern nicht „Nein.“ sagen konnte. Obwohl ich mich nicht erinnern kann, muss es folgendermaßen gewesen sein (weil es eigentlich immer so war). Mein Vater entwickelt eine Idee, die ihn total begeistert, erzählt sie mir erwartungsvoll und ich schaffe es nicht „Nein!“ zu sagen. Meine Eltern lieben es zu reisen und sie lieben es, gut zu essen und davon anschließend sehr ausschweifend zu erzählen. Ich mag das gar nicht, habe das aber nie gesagt.
So begab es sich also zu der Zeit, dass wir gemeinsam mit Malta Air nach Malta flogen. Von Malta flogen wir per Helikopter nach Gozo. (Der Flug war schrecklich für mich!) Ich war 20 Jahre alt, meine Schwester 23 Jahre. Ich frage mich, warum sie uns überhaupt mitnehmen wollten. Ja, ok, sie dachten, dass ich gerne mitfahre, aber meine Eltern waren 50 Jahre alt. Hätten sie nicht einfach alleine verreisen können? Jedenfalls war vor fast 20 Jahren auf Gozo zwischen den Feiertagen absolute tote Hose und es war sehr, sehr kalt. In meiner Traumvorstellung ist es auch im Winter auf einer Mittelmeerinsel warm… ja, ja, hätte ich auch wissen können, dass das nicht so ist… Es war aber bestimmt ein besonders kalter Winter auf Gozo oder die Stimmung war einfach frostig…
Und es war einfach nur langweilig! Ich war seit knapp 9 Monaten mit meinem Mann zusammen und ich vermisste ihn schrecklich. Langeweile und Herzschmerz. Und Urlaub mit den Eltern. Es war wirklich schon alles schlimm, aber meine Eltern haben ja noch eine weitere Leidenschaft: ausgedehnte Spaziergänge, es wurde also schlimmer. Sie schlugen vor, dass wir zum Felsentor „Azure Window“ spazieren könnten. Ich stellte mir also eine entspannten Spaziergang zum Felsentor vor und wir gingen los. Und wir gingen und gingen und gingen. Ich muss offen gestehen, dass ich für Naturschauspiele wirklich keinerlei Leidenschaft entwickeln kann. Da passiert bei mir nix, es gibt Menschen, die behaupten, ich wäre nicht begeisterungsfähig. Das stimmt aber gar nicht, ich begeistere mich für andere Dinge. Also, kurz gesagt: ein Felsentor ist für mich so beeindruckend wie ein Gartentor. Inzwischen gingen wir nicht mehr, wir irrten durch die Gegend und wir froren. In meiner Erinnerung stundenlang. Es entwickelte sich zu einem typischen Familienspaziergang. Die Eltern genießen die Natur und die Kinder sind maulig, mit dem Unterschied dass die mauligen Kinder normalerweise nicht bereits volljährig sind.
Die Stimmung war absolut am Tiefpunkt (bei den unter 50-jährigen) und auch der Anblick des Felsentors konnte daran nichts ändern. „Oh, toll. Steine. Toll. Die kann ich mir auch Zuhause angucken.“ Meine Eltern waren im Gegensatz dazu absolut begeistert und haben sich alles ganz genau angeschaut, sehr lange.
Meine Eltern haben keinerlei Antennen für die Stimmung anderer, das ist tatsächlich so. Wenn es mir also immer schwer fiel, meinen Eltern zu sagen, wie es mir geht, musste ich an diesem Tag wirklich kein Wort sagen, damit sie hätten sehen können, dass ich komplett abgefuckt war. Meiner Schwester ging es ähnlich. Sie waren wahrscheinlich so berauscht von diesem Naturspektakel, dass sie ernsthaft sagten, dass wir jetzt zurückgehen könnten. Gehen! Zu Fuß!!!! Ich habe mich das sehr oft gefragt, aber dort am Felsentor besonders eindrücklich: „Was stimmt mit meinen Eltern nicht?“
Ich weiß nicht mehr, was wir gesagt haben, aber meinen Eltern wurde klar, dass wir nicht den ganzen Weg zurückgehen werden. Wir sind in den nächsten Ort gegangen, wo wir etwas gegessen haben, und mein Vater es schaffte, jemanden aufzutreiben, der bereit war uns zurückzufahren. (Ich weiß, dass es kein Taxifahrer war, leider habe ich die Details vergessen.)
Danach bin ich nicht mehr „alleine“ mit meinen Eltern in Urlaub gefahren, ich habe meinen Mann mitgenommen. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Aber trotzdem war es jedes Mal wahnsinnig anstrengend mit meinen Eltern zu verreisen und es ist für mich heute erstaunlich, dass ich das so oft gemacht habe.
Ich hätte es schön gefunden, mit meinen Eltern ins Kino zu gehen, denn das war etwas, was wir alle gerne gemacht haben.
Wie ich jetzt auf Gozo komme? Ich habe bei Fräulein Kassandra gelesen, dass das „Azure Window“ eingestürzt ist. So, ist das. Durch ständige Belastung zerbrechen Verbindungen. Das gilt für Felsentore sowie Eltern-Kind-Beziehungen.
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