Autor: jenniferheart

  • Das ist nicht genug!

    Mit der Zeit fühlte ich mich von meiner Therapeutin unter Druck gesetzt. Von Beginn an empfahl sie mir meine verdrängten Erinnerungen wieder ans Licht zu holen. Wie eine Art Kiste, die ich öffnete, um die Dinge darin zu betrachten. Sie sagte, dass ich die Kiste dann wieder schließen könnte, wenn ich wollte. Es wäre aber sehr wichtig sie zu öffnen. Danach wäre ich befreit.

    In den 10 Monaten der Therapie waren Zweifel meine ständigen Begleiter. Kann ich denn glücklich sein, wenn ich die Kiste nicht öffne? Darf ich überhaupt glücklich sein? Diese Zweifel zwangen mich, mich mit Fragen auseinanderzusetzen, die ich sonst nicht zuließ. Ich begann Bücher zu lesen und suchte nach anderen Wegen. Meine Therapeutin erzählte ich währenddessen von den Schulproblemen meines Sohnes. Sie erzählte von Pferden.

    Ich spürte, dass sie es für den einzigen und richtigen Weg hielt, mein Trauma aufzuarbeiten und mich mit meinen Eltern zu versöhnen. Aber wollte ich das?

    In meinem Leben traten viele Veränderungen ein. Kleine und auch große. Ich besuchte einen wöchentlichen Kurs zur Progressiven Muskelentspannung. In einer Gruppe. Ich denke, dass das für viele kein Problem darstellt mit anderen fremden Menschen in einem Raum auf Matten zu liegen und zu entspannen. Für mich war es ein riesen Ding. Es hat mich viel Überwindung gekostet.

    Ich kündigte meinen Job. Ich brach den Kontakt zu meiner Schwester ab. Ich schrieb mich für ein Studium ein. Die Veränderungen taten mir gut!

    Ich meldete mich zu einem eintägigen Seminar zum Thema Dynamische Muskelentspannung ein. Ich hatte mir einige Wochen zuvor ein Buch zu dem Thema gekauft und hatte dann zufällig gesehen, dass der Autor diesen Kurs über die VHS anbot. Mich zu einem VHS-Kurs anzumelden, war für mich wieder ein großer Schritt. Fremde Menschen in einem Gebäude, in dem ich zuvor niemals gewesen war. Ich bei einem VHS-Kurs? Womöglich nur mit Frauen! Schreckliche Vorstellung. Und in der Tat war es so, dass alle meine Vorurteile bestätigt wurden, aber es war ein wirklich guter Tag!

    Der Referent sagte für mich entscheidende Schlüsselsätze. „Was in der Vergangenheit passiert ist, kannst du nicht verändern. Was zählt, ist heute. Ein Trauma muss nicht aufgearbeitet werden, wenn du dich gut fühlst. Vielleicht kommt der Tag, an dem du es bearbeiten willst. Oder er kommt nicht. Es zählt nur, wie du dich fühlst.“

    Das ist natürlich keine neue Erkenntnis, aber es tat mir so gut, es zu hören. Nachdem Seminar war ich erleichtert. Es nahm mir einen Teil meiner Zweifel. Wenn ich mich glücklich fühle, dann bin ich glücklich.

    Zwei Tage später hatte ich eine Sitzung. Ich erzählte meiner Therapeutin voller Begeisterung von dem Kurs und wie gut er mir getan hatte. Ihre Begeisterung hielt sich unterdessen in Grenzen. Sie war aufgebracht und forderte mich auf ihr zu zeigen, welche Entspannungsübungen wir gemacht hatten. Ich weigerte mich. Sie geriet in Rage. Sie warf mir vor, dass die Veränderungen in meinem Leben nicht genug wären. Ich fühlte mich, wie vor den Kopf gestoßen. Was war hier los? Ich widersprach ihr. Sie entgegnete mir, dass es schön und gut sei, den Kontakt zu meinen Eltern abzubrechen, es würde aber nicht reichen. Ich müsste mich versöhnen!

    Ich war völlig überrumpelt und versuchte mich zu sammeln. Sie legte mir die Pistole auf die Brust. Ich müsse mich sofort entscheiden, wie es weitergehen soll.

    Nach einem kurzen Moment sagte ich ihr: „Ich werde nicht wiederkommen!“

    Und das war, so glaube ich, das letzte, womit sie gerechnet hatte. Sie begann zurückzurudern. Ja, die Veränderungen wären doch sichtbar, sie würde das nicht nur so sagen. Sie würde mir keineswegs nach dem Mund reden. Ich dachte mir meinen Teil. Für mich war die Therapie mit ihr einfach beendet.

    Sie erklärte mir noch, wie lange ich Zeit hätte, die restlichen von der Krankenkasse genehmigten Sitzungen, in Anspruch zu nehmen. Mir war klar, dass ich diese nicht mehr wahrnehmen würde. Wir verabschiedeten uns höflich.

    Die ganzen Zweifel, die sie in mir gelöst hatte, waren schon vor der Therapie in mir. Die hat sich nicht gesät. Sie hat mich dazu gebracht, mich mit ihnen auseinanderzusetzen. Ihre Vorgehensweise war sicherlich nicht richtig! Daran gibt es keine Zweifel.

    Ich bin sehr leidensfähig. Wie in diesem Fall habe ich die Situation so lange ausgehalten, bis es wirklich gar nicht mehr ging. Das ist kein guter Umgang mit mir selber. Für mich war es aber ein Weg, der mich dorthin gebracht hat, wo ich bin.

    Es wird aber Menschen geben, den dieser Weg nicht geholfen hätte. Er hätte ihnen schaden können. Im Rückblick würde ich sagen, dass es verantwortungslos von ihr war, mich so zu behandeln. Ich steckte in einer Krise. Es hätte anders ausgehen können.

    Aber ich versuche das Positive zu sehen. Heute geht es mir gut. Und ich versuche daraus zu lernen. Wenn ich wieder therapeutische Hilfe suchen würde, würde ich es anders machen!

  • Neuanfang!

    Ich habe meinen Mann über eine Freundin kennengelernt. Das muss im September oder Oktober 1997 gewesen sein. Wir sahen uns regelmäßig, immer in großer Runde. Silvester war ich zu einer Feier eingeladen. Wie ich später erfuhr, war er an der Einladung nicht unbeteiligt gewesen.

    Nach dem die Feier zu Ende war, brachte er mich nach Hause. Und es war das erst mal, dass wir uns wirklich unterhielten. Im Februar waren wir zusammen mit einem anderen Paar verabredet. Beim Abschied gaben wir uns einen flüchtigen Kuss. Bei jeder Treppenstufe, die ich zur Wohnung nahm, ging mir das Wort „Scheiße!“ durch den Kopf. „Scheiße, dass kann ernst werden!“ Ich wusste, dass er ein Guter ist. Ein Mann fürs Leben.

    Ich hatte Menschen immer auf Abstand gehalten. Jahrelang war ich in einen Mann verliebt, der verheiratet und mehr als doppelt so alt war wie ich. An dem Tag als ich erfuhr, dass er sich von seiner Frau getrennt hatte, habe ich nie wieder mit ihm gesprochen. Mir war klar, dass die Trennung nichts mit mir zu tun hatte und es niemals eine Beziehung zwischen uns geben würde, aber durch die Trennung wurde es zumindest denkbar. Und da war ich raus. Was nützt die Liebe im Gedanken? Nichts würde ich sagen, aber sie schützte mich vor Enttäuschungen.

    Und jetzt stand ich da und war hin- und hergerissen. Ich wollte ihn auf keinen Fall verletzen, aber der Gedanke, die Liebe zu zulassen, machte mir Angst. Es war eine schwierige Zeit, ich spürte meine innere Zerrissenheit deutlich. Es schmerzte mich. War ich es wert von ihm geliebt zu werden? Liebe? Wie geht das überhaupt? Ich warf alles in die Waagschale und seit diesem Tag gab es keine Zweifel mehr.

    Wir waren ein Paar. Er wohnte noch bei seinen Eltern und ich war, wann immer möglich, bei ihm. Es ist erstaunlich, wie gut ich seinen Eltern aus dem Weg gehen konnte. Obwohl ich fast immer bei ihm war, haben seine Eltern mich so gut wie nie zu Gesicht bekommen. Ich habe mich in seinem Zimmer versteckt und ich war einfach glücklich.

    Die ersten Monate waren für ihn nicht immer einfach. Ich hatte Gefühle, die ich vorher nicht kannte. Wegen Kleinigkeiten war ich komplett eingeschnappt. Ich sprach stundenlang kein Wort mit ihm und wusste selbst nicht warum. Mit der Zeit wurde es besser und ich bin unendlich dankbar für seine Geduld.

    Nach einem 3/4 Jahr suchte er sich eine Wohnung für sich, aber seit dem ersten Tag wohnte auch ich dort. An einem Nachmittag brachte mir meine Schwester meine Sachen.

    Meine Eltern beklagten sich darüber, dass ich mich nicht mehr melden würde.

    Es hat weitere 17 Jahre gedauert, bis ich den Kontakt zu meinen Eltern abbrach. Der erste Tag unserer Beziehung, war der letzte Tag für meine Beziehung zu meinen Eltern. Damals ahnte ich das nicht.

    Mein Mann hat mich gerettet. Er hat mir gezeigt, was Liebe ist. Durch ihn lernte ich, was Vertrauen bedeutet. Mein Mann hat mir das Leben gerettet.

    Ich liebe dich!

  • Augen auf bei der Therapeuten-Wahl!

    „Sie rationalisieren! Wenn Sie Ihre Erlebnisse schildern, klingt es wie eine Berichterstattung. Als würde ich einen Artikel in einer Zeitung lesen. Sie sind meine einzige Patientin, die so sehr rationalisiert.“

    Obwohl ich sehr leistungsorientiert bin, hatte auch ich verstanden, dass dies nicht als Lob gemeint war. Aber was wollte sie mir damit sagen? Vielleicht war es ein entscheidender Fehler zu Beginn der Therapie zu sagen, dass ich mir wünschte emotionaler zu sein. Wahrscheinlich hätte es den Verlauf der Therapie auch gut getan, ihr zu sagen, dass ich mit der Zeit zu dem Gedanken gekommen war, nicht mehr daran zu arbeiten mich zu verändern, sondern mich so anzunehmen, wie ich bin. Auch wenn das bedeuten sollte, dass ich ein rationaler Mensch bin. Fuck the heck! Was soll damit nicht richtig sein?

    Die ersten Stunden hatte ich das Gefühl, dass sie, obwohl sie so ganz anders war als ich oder gerade deswegen, die richtige Therapeutin für mich wäre. Zu Beginn ging es mir nach den Sitzungen sehr schlecht, aber ich hatte gearbeitet, ich hatte einen Schritt getan. Innerlich sträubte sich bei dem Gedanken an den nächsten Termin alles in mir. Ich wollte nicht hingehen, tat es trotzdem. Immer die Schuhe ausziehen, beide Füße am Boden, Kontakt mit Mutter Erde. Ich ließ mich darauf ein. Ich gab ein Stück Kontrolle aus der Hand und versuchte die Dinge nicht zu hinterfragen, nicht zu zerdenken, wie sonst.

    Aber mit der Zeit wurde mein innerer Widerstand größer. Ich wollte es mir noch nicht eingestehen und nahm die Termine weiter wahr. Ich wusste nicht mehr, was ich erzählen sollte. Also begann ich von den Schulproblemen meines Sohnes zu erzählen. Eine Sitzung, zwei Sitzungen, drei Sitzungen. Zum Schluss erzählte ich ihr dann sogar von den Gesprächen mit dem Schulpsychologen. Auch schön der Psychologin vom Psychologen zu erzählen. Und immer, wenn mir die Worte ausgingen, redete sie von Pferden. Wie sie die Pferde behandelt. Wie sie die Pferde reitet. Wie sie sich mit der Reitlehrerin unterhält. Wie man das Vertrauen, der Pferde gewinnen kann. Oder besser gesagt, wie sie das Vertrauen der Pferde gewinnen kann.

    Pferde? Ich mag Pferde überhaupt nicht! Ich habe mir währenddessen überlegt, was sie mir mit der Pferde-Metapher sagen will. Bin ich das Pferd und sie die Reiterin? Oder bin ich die Reiterin und mein Leben das Pferd? Vielleicht wusste sie selbst auch nicht mehr, was sie sagen soll. Keine Ahnung, warum ich sie nicht einfach gefragt habe. Aber es führte dazu, dass ich zweifelte. War sie die richtige Therapeutin für mich? Ich erzählte seit Wochen von Schulproblemen und Elternabenden und sie schilderte ihre Erlebnisse aus dem Reitstahl. Das Ende war bereits in Sicht. Und wenn ich mal in diese Richtung geschaut hätte, hätte ich es auch sehen können!

    Ich würde mir bei der Auswahl eines Therapeuten beim nächsten Mal wesentlich mehr Zeit nehmen und stärker auf mein Bauchgefühl hören. Mein Hausarzt hatte mir gesagt, dass er mir im Bedarfsfall so viele Verordnungen ausstellen würde, wie ich benötigen würde, um den richtigen zu finden.

    Ich kann aber sagen, dass die Therapie Dinge angestoßen hat. Am Anfang sind sehr viele Steine ins Rollen gekommen. Die Sitzungen waren für mich eher eine Art Erinnerung daran weiterzuarbeiten, und zwar nicht während dieser, sondern während meines Lebens!

  • Einmal Opfer, immer Opfer? Nein!

    „Einmal Opfer, immer Opfer!“ Das sagte meine Schwester am Telefon.

    Zu Beginn meiner Therapie dachte ich, ich müsse mich an alles erinnern können. Meine Therapeutin unterstütze das. In der zweiten Sitzung begann sie mir Körperübungen zu erklären, die mich zu meinen Erinnerungen zurückführen sollten. Ich habe mich wirklich bemüht ihren Anweisungen zu folgen. Ich dachte, dass ich nichts zu verlieren habe, wenn ich etwas versuche, was so gar nicht mir entspricht. Die ganze Sache sollte mir ja keinen Spaß bereiten, sondern mein Trauma heilen. Aber so sehr ich auch „turnte“, es tat sich nichts.

    Ich fragte meine Schwester nach ihren Erinnerungen. Per SMS. War es selbstsüchtig sie das zu fragen? Ja. Würde ich es wieder tun? Nein. Ich dachte, ihre Gedanken zu hören, würde mir den Zugang zu dem geben, was im Verborgenen lag.
    Sie war nicht bereit zu sprechen. Ich habe das verstanden und respektiert.

    Die Therapie schritt weiter und es gab keine Fortschritte in Hinsicht auf meine Erinnerungen. Ich merkte, dass die Therpeutin nicht locker lassen wollte.

    Ich kann heute mit Überzeugung sagen, dass sie für mich nicht die richtige Therapeutin war, aber nichtsdestotrotz hat sie in mir viele Prozesse angestoßen. Gerade dadurch, dass sie in fast allen Punkten eine andere Meinung als ich hatte. Oder es vorgab. Vielleicht war das ihre Strategie, um mich aus der Reserve zu locken? Ich weiß es nicht.

    Ich kam zu dem Punkt, an dem ich mich entschied, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Wenn meine innere Blockade so stark war, wollte ich nicht weiter dagegen ankämpfen.

    Eines Abends meldete sich meine Schwester per Telefon. Sie weinte. Sie wollte mit mir doch über alles sprechen. Ich war überfordert. Jetzt, wo sie dazu bereit war, hatte ich das Thema Erinnerungen abgeschlossen. Ich wollte das nicht hören, weil es für mich keine Bedeutung mehr hatte. Ich hatte für mich entschieden, nach vorne zu schauen. Natürlich mit dem Bewusstsein darüber, was geschehen war, aber mit der Entschlossenheit, dass es nicht mein Leben bestimmen soll.

    Sie quälte das schlechte Gewissen, dass sie mich nicht beschützt hatte. Ich war wie im Taumel. Nicht beschützt? Ich sagte ihr, dass sie selber Opfer war, dass sie zu klein war, um mich zu beschützen.

    „Einmal Opfer, immer Opfer!“ erwiderte sie.

    In diesem Moment war mir klar, dass wir uns nicht gegenseitig helfen können.

  • You have no power over me!

    Ich bin kein nachtragender Mensch. Alles was passiert ist, hat mich dorthin gebracht, wo ich bin. Und ich bin zufrieden. Ich habe ein gutes Leben.

    Es gibt Dinge, die nicht hätten passieren dürfen, aber trotzdem kann ich glücklich sein. Den einen Tag mehr, den anderen weniger. Ich glaube nicht, dass Sätze wie „Jeder hat sein Leben selber in der Hand.“ uneingeschränkte Gültigkeit haben. Denn in solchen Sätzen schwingt der Vorwurf mit, dass diejenigen die unglücklich sind, dafür alleine verantwortlich sind.

    Es ist der pure Hohn, Opfern zu sagen, dass sie die Verantwortung tragen. Ich weiß nicht, wovon es abhängt, dass der eine mit seinem Leben zurecht kommt und der andere unter der Last zusammenbricht.

    Ich habe einen Weg gefunden und ich kann entscheiden, wer mich auf diesem Weg begleitet. Meine Eltern, meine Schwestern, mein Bruder gehen einen anderen Weg. Es tut so gut zu wissen, dass sie keine Macht über mich haben!

  • Ist doch nicht so schlimm!

    Dadurch dass meine Eltern nichts unternommen haben, hat sich bei mir der Gedanke festgesetzt, dass es nicht so schlimm ist, vom eigenen Bruder missbraucht zu werden. Es ist passiert und es lässt sich nicht ändern. Ach, so schlimm ist das doch gar nicht!

    Vor rund zwanzig Jahren gab es eine Kampagne für die Nummer gegen Kummer und ich habe oft darüber nachgedacht, dort anzurufen. Ich weiß nicht, was mich schlussendlich davon abgehalten hat, aber egal was es war, es war einfach falsch zu schweigen! Schweigen ist keine Lösung. Es ist verlockend, so zu tun als wäre nichts geschehen, sich einzureden, dass es alles in Ordnung ist.

    Natürlich habe ich mir wie meine Eltern gewünscht, dass wir eine glückliche Familie sind! Und um diese Illusion aufrechtzuerhalten, war ich bereit eine Rolle zu spielen. Jahre lang nicht ich sein. Ich habe keine Erinnerungen daran, wie es sich als Kleinkind angefühlt hat, mit meinem Bruder am Frühstückstisch zu sitzen, mit ihm zu spielen, mit ihm all das zu teilen, was zum Familienalltag gehört, aber ich könnte bei dem Gedanken daran kotzen!

    Meine Eltern haben mich zur Täterin gemacht. So lange ich geschwiegen habe, war alles in Ordnung. Durch den Versuch darüber zu sprechen, habe ich den Traum der glücklichen Familie attackiert. Den Kampf darum, dass meine Eltern mich als Opfer wahrnehmen, habe ich aufgegeben. Für was auch? Um wieder in die alte Rolle der angepassten Tochter zu schlüpfen? Nein, danke!

    Ich habe schmerzlich begriffen, dass es die Familie und die Eltern, die ich mir immer gewünscht habe, nicht gibt und nie geben wird. Meine Eltern werden nie ihre Illusion aufgeben, dass wir die Perfekte Familie sein können.

    Vor einigen Tagen schrieb mein Vater eine E-Mail und fragte, ob wir gemeinsam in Urlaub fahren. What the fuck? In Urlaub fahren? Wir? Weiter schrieb er: Unsere Angebot gilt nach wie vor, aber ein Mindestmaß an höflichen Umgang miteinander ist eine unbedingte Voraussetzung.

    Ich kann gar nicht sagen, was daran alles falsch ist. Ich habe meinen Eltern sehr deutlich gesagt, dass ich keinen Kontakt mit ihnen haben will. Und jetzt möchten sie mit uns in Urlaub fahren? Und Bedingung ist ein Mindestmaß an Höflichkeit? Mir wird schlecht!

    Das zeigt mir so klar, dass meine Eltern mich nie verstehen werden.

  • Das Leben ändern.

    Im Sommer 2013 hatte ich das Gefühl, ich würde jeden Moment explodieren. Hätte ich mich jemand auf der Straße blöd angequatscht, hätte ich dies dankend zum Anlass genommen, meiner Wut freien Lauf zu lassen. Nein, ich hätte es nicht getan, aber der Gedanke war verlockend.

    Was war passiert? Alles begann mir über den Kopf zu wachsen. Vor allen Dingen quälten mich die Ansprüche, die ich an mich stellte. Kontrolle bewahren, keine Niederlagen eingestehen, immer funktionieren. Das alles begleitet von ununterbrochener Grübelei.
    Mir wurde klar, dass es so nicht weitergehen kann. Ich vereinbarte einen Termin bei meinem Hausarzt.

    “Mein Bruder hat mich und meine Schwester im Kleinkindalter sexuell missbraucht.“

    Betretenes Schweigen.

    “Wissen Ihre Eltern davon?”
    “Wo wohnt Ihr Bruder?”
    “Wurde es strafrechtlich verfolgt?”

    Der Arzt empfahl eine Gesprächstherapie und ließ mich mit dem Hinweis gehen, ich solle bitte nicht nach der Diagnose auf der AU googeln. Posttraumatische Belastungsstörung.

    Needless to say: Ich habe mich im Internet informiert.

    Eine Woche später hatte ich das verordnete Erstgespräch. Bei einer Frauenärztin, die eine Weiterbildungen im Bereich Psychotherapie und Homöopathie absolviert hatte. Die Auswahl an Therapeuten war sehr begrenzt.

    Den Psychologen, den ich zuerst angerufen hatte, machte bei mir keinen guten Eindruck. Er meldete sich am Telefon und ich sagte: “Guten Tag! Hier spricht Frau Needlesstosay.” Seine Antwort:

    “Ich kann Sie nicht verstehen.”

    Und ich im Gedanken: „Was?“

    Ich rufe einen Gesprächstherapeuten an und der erste Satz, den er zu mir sagt, lautet
    “Ich kann Sie nicht verstehen.”? Ich legte auf. (Wie sich später herausstellte, hatte mein Vater einige Jahre zuvor bei ihm therapeutische Hilfe gesucht und gefunden.)

    Aber zurück zu der Frauenärztin mit absolvierter Weiterbildung im Bereich Psychotherapie und Homöopathie. Das hätte mich wirklich stutzig machen können. Sie begrüßte mich herzlich, bat mich die Schuhe auszuziehen und mich so zu setzen, dass beide Füße Kontakt zur Mutter Erde haben. Denn die Mutter Erde würde mir immer Halt geben. Zu diesem Zeitpunkt war ich einfach dankbar eine Therapeutin gefunden zu haben und versuchte mich darauf einzulassen. Ich brauchte Veränderungen in meinem Leben und warum dafür nicht in Kontakt mit Mutter Erde treten?

  • Nutzlos!

    Needless to say! Eine wortwörtliche Übersetzung würde lauten: Nutzlos es zu sagen! Die sinngemäße Übersetzung heißt schlicht und einfach ’natürlich‘. Wenn ich also sagen würde „Draußen regnet es. Die Straße wird nass.“ Könnte ein Kommentar dazu sein: „Needless to say!“. Denn selbstverständlich wird die Straße bei Regen nass, es ist unnötig es zu sagen. Jeder weiß das.

    Für mich ist es aber eine Art Sinnbegriff für die Kommunikation mit meinen Eltern. Es ist nutzlos mit ihnen zu sprechen. Ich habe sehr schnell verstanden, dass meine Eltern nicht damit umgehen können, dass ich von meinem Bruder missbraucht wurde. Sie wünschen sich so sehr, dass ihre Familie zusammenhält, dass sie nicht bereit sind diesen Wunsch aufzugeben. Und das ist ein Scheideweg. Sie können nicht an ihrem Traum der glücklichen Familie festhalten und gleichzeitig akzeptieren, was passiert ist. Sie haben eine Entscheidung getroffen, sie beharren darauf, dass ihre Familie eine glückliche Familie ist. Und das heißt folglich auch, dass ich bitteschön still halten und still sein soll. Suck it up! Stell dich nicht so an!

    Es ist doch nicht zu viel verlangt, Geburtstage gemeinsam zu feiern. Ich könne mich ja in eine andere Ecke setzen. Zum 40. Hochzeitstag wirst du doch bereit sein mit der ganzen Familie einen gemeinsamen Urlaub zu verbringen. Also, bitte! Was ist los mit dir?

    Ich bin es einfach leid, immer wieder zu erklären, warum ich das nicht will. Wobei das auch wirklich jeder andere Mensch auf der Welt (außer natürlich meine Eltern) verstehen würde. Ich hatte immer die Hoffnung, dass sie es verstehen und um überhaupt einen Umgang mit mir zu ermöglichen, manche Themen nicht ansprechen. Inzwischen habe ich verstanden, dass es einfach vollkommen zwecklos ist.

    Und jetzt kommt meine Mutter mit dem super Vorschlag um die Ecke, wir könnten zu einen Mediator gehen. Ich weiß schon jetzt, wie das laufen würde. Meine Mutter würde dies als Plattform nutzen, um wieder und wieder von ihrem Leben und von all den schlimmen Dingen, die ihr passiert sind, zu erzählen. Denn egal, wann und über was ich mit meiner Mutter gesprochen habe, am Ende erzählt sie von sich. Ich kann es nicht mehr hören!

    Nein, ich gehe nicht mit euch zu einem Mediator. Es ist aus und vorbei! Adieu!

  • Bist du dir sicher, dass du das nicht geträumt hast?

    Welche Erwartungen hatte ich an meine Eltern, bevor ich ihnen das gesagt habe? Ich hatte es bereits einer Freundin erzählt, die damit vollkommen überfordert war. Sie schlug deshalb vor, dass ich es ihrer Mutter erzähle, die damit vollkommen überfordert war. Sie schlug aus diesem Grund vor, dass ich es meinen Eltern erzähle. Ich weiß nicht, was ich von meinen Eltern erwartet habe, aber mit Sicherheit habe ich nicht damit gerechnet, dass sie damit vollkommen überfordert sein werden.

    Mit 14 Jahren hatte ich vielleicht die Vorstellung, dass alles wieder gut sein wird, sobald ich es meinen Eltern erzählt habe. Ich habe sicherlich auf Trost gehofft, auf offene Arme, auf Verständnis. Ich sagte meinen Eltern, dass ich ihnen etwas erzählen muss, etwas von Bedeutung. Und so saßen wir eines Nachmittags zu dritt im Wohnzimmer und ich werde ich in einem ähnlichen Wortlaut gesagt haben:

    „Mama, Papa, mein Bruder hat mich missbraucht, als ich ein Kleinkind war.“

    Die Antwort meiner Mutter kam schnell und traf mich wie ein Vorschlaghammer.

    „Bist du dir sicher, dass du das nicht geträumt hast?“

    Ich kann mich nicht erinnern, wie meine Antwort lautete. Meine Erinnerung setzt dort ein, wo die Erzählung meiner Mutter darüber beginnt, dass ihr das als Kind auch widerfahren sei. Sie wurde von einem Nachbarn, der Böses im Schild führte, im Schrank eingesperrt. Ich habe bis jetzt nicht verstehen können, was das überhaupt mit mir zu tun hat.
    Meine Mutter fragte, ob ich psychologische Unterstützung benötige. Ich sagte, nein. Mein Vater sagte mir, dass Jungs in dem Alter so seien. Ich sagte nichts. Umarmung hier, Umarmung da. Gespräch beendet. Thema abgeschlossen.

    Die nächsten 16 Jahren sprachen wir nicht darüber. Alles ging weiter wie bevor, als hätte es das Gespräch nie gegeben. Meine Eltern müssen auf eine Art unfassbar dankbar dafür gewesen sein, dass ich mich darauf einließ. Ich bin nicht ausgeflippt. Ich habe nicht geschrien. Ich habe ihnen keine Vorwürfe gemacht. Ich bin jeden Tag in die Schule gegangen. Ich machte ihnen keinen Kummer und auch keine Sorgen. Ich bin sogar, wie es sich gehört, bei jedem Besuch bei meinem Bruder und seiner Familie dabei gewesen. Und wenn er zu Besuch war, war ich natürlich auch anwesend. Alles lief, wie es laufen soll, so wie es sich meine Eltern wünschten.

    Meine Eltern hatten beide, wie man so sagt, eine schwere Kindheit. Dementsprechend groß war ihr Wunsch alles besser zu machen. Der Wunsch meiner Mutter eine glückliche Familie zu haben, die in Harmonie lebt, war und ist übergroß. Alles was nicht in diese Vision passte, wurde an den Seiten radikal abgeschnitten. Dass die Tochter vom 9 Jahre älteren Sohn sexuell missbraucht wird, passt in keine Vision, die eine glückliche Familie enthält. Aber das ist niemals ein Grund dafür, dass meine Eltern komplett über mich und was passiert war hinweggingen, keinerlei Verantwortung übernahmen und mich im Stich ließen.

    Meine Eltern müssen von ihrem Wunsch nach der glücklichen Familie so getrieben gewesen sein, dass sie sich sehr bemühten, das Gespräch so schnell wie möglich zu vergessen. Wenn sie sich ernsthaft damit beschäftigt hätten, hätten sie wissen müssen, dass eine 14-jährige nicht allein entscheiden kann, ob sie psychologische oder Unterstützung anderer Art benötigt. Sie haben sich durch scheinbar tröstende Worte und eine Umarmung von jedweder Verantwortung frei gekauft.

    Danke für nichts, Mama und Papa!