Die schlimmste Lesung – wie ich meine – fand ungefähr im Frühjahr 2017 in Köln statt. In der seelenlosen Halle am Tanzbrunnen.
Ian McEwan interviewt von seinem Übersetzer, der auch das zu diesem Zeitpunkt aktuelle Werk „Nussschale“ ins Deutsche übersetzt hatte.
Den knappen Roman hatte ich bereits vor der Veranstaltung gelesen und mir war natürlich folgendes keine Sekunde bewusst:
„An der Oberfläche ist die erzählte Geschichte leicht wiederzuerkennen als eine Variante von Shakespeares Drama Hamlet, worauf auch die Namensgebung der zwei erwachsenen Hauptpersonen hinweist: Trudy (bei Hamlet Gertrude) heißt die werdende Mutter und Claude (bei Hamlet Claudius) ihr Geliebter.“ Quelle: Wikipedia
Leicht wiederzuerkennen… Für wen eigentlich? Natürlich kenne ich Shakespeare und Hamlet. Hamlet – ein dänischer Prinz. Warum schreibt ein englischer Autor im 17. Jahrhundert eine Geschichte über einen dänischen Prinz? Eine Frage, die ich mir irgendwann stellte, und keine Antwort darauf wollte. Wissen oder nicht wissen – das ist hier keine Frage.
Jedenfalls hatte der Moderator aka der Übersetzer da irgendwas verwechselt oder er ergriff die einmalige Gelegenheit nicht den Autor ins Rampenlicht einer Lesung zu stellen, sondern den Übersetzer, der im Allgemeinen eher eine Schattenfigur ist.
Er schwafelte in so umschweifenden Sätzen und Formulierungen, natürlich erst in Deutsch und dann anschließend höchstpersönlich ins Englisch übersetzt, dass mir bis heute vom kompletten Gespräch nichts in Erinnerung geblieben ist. Er redete mich um Kopf und Kragen. Er plauderte in einem selbstverliebten Ton gegen die eigene Unbedeutsamkeit an, so dass Ian McEwan kaum zu Wort kam.
Ich will die Bedeutung von Übersetzer*innen nicht herabwürdigen, doch ist es nicht so, dass Menschen zu Lesungen kommen, um Autor*innen zu erleben?
Ein weiterer Höhepunkt war ein Schauspieler, der just zu dieser Zeit den Hamlet auf der Bühne gab. Er sollte Passagen aus Shakespeares Werk vorlesen. Es war schon schlimm, jetzt wurde es schlimmer. Der Schauspieler stotterte sich durch den Text. Kein Satz kam gerade heraus, er verhaspelte sich durchgehend. Er tat mir sehr leid. Die Leute ringsherum begannen zu lästern. Was ist denn da los? Kann er nicht lesen?
Vielleicht war es einfach so, dass Ian McEwan sich an diesem Abend unpässlich fühlte. Vielleicht war er bereits seit Wochen durch Europa auf Lesereise gewesen. Von Tag zu Tag schwand die Motivation. Jeden Abend die gleichen Fragen, immer wieder die selben Textpassagen vorlesen. Das muss doch beim besten Willen irgendwann an den Nerven zehren.
Dann endlich die finale Veranstaltung in Köln. Ian McEwan hat sich im seelenlosen Backstage-VIP-Raum die Decke über den Kopf gezogen, nachdem er die Tür von innen abgeschlossen hatte. „For God‘s Sake! Ich will nicht mehr! Ich habe eigenhändig dieses Buch geschrieben! Was denn noch alles? Fuck off! Den Rest soll jemand anders machen.“
Und so musste spontan gehandelt werden. Ob er denn wenigstens bereit wäre, auf der Bühne zu sitzen? Er müsse wirklich nur ganz schmallippig ein paar Fragen beantworten, wenn er wolle reiche ein kurzes Nuscheln oder ein vielsagender Blick. Der Übersetzer würde das schon machen. Und wie durch Zufall könnte der Schauspieler heute Abend spontan einspringen und zur Abwechslung Shakespeare vortragen. Bitte, Herr McEwan. Please.