Familiengeheimnisse…

Mein Vater hat, so lange ich mich erinnern kann, immer gerne von seiner Arbeit erzählt. Welche Kunden er besucht hat, welche Vertragsabschlüsse zu erwarten sind und welche Kunden aktuell Verträge unterschrieben haben. Außerdem liebt er es über Musik zu sprechen. Welche Platte er gekauft hat, kaufen wird, auf welchem Konzert er sein wird und auf welchem er war.

Was meinen Vater davon abgesehen bewegt hat, wie seine Kindheit war oder welche politischen Ansichten er hat bzw. hatte, weiß ich nicht. Es gab keine tiefgründigen Gespräche mit ihm oder eigentlich so gut wie gar keine Gespräche, die sich weder um Musik noch Arbeit drehten. Es kam häufiger vor, dass ich mit meinem Vater sprach und erst nach einer gewissen Zeit merkte, dass er mir gar nicht zugehört hatte. Er saß zwar dort vor mir, aber er war überhaupt nicht anwesend.

Mein Vater wurde in England geboren. Er musste sich viel um seine zwei jüngeren Geschwister kümmern, da seine Eltern arbeiteten. Mein Großvater arbeitete in der Textilindustrie, was meine Großmutter machte, weiß ich nicht. In einem Jahr bekam mein Vater Rollschuhe, einen Holzroller und einen Ball zu Weihnachten geschenkt. Er war so froh darüber, dass er sich im kindlichen Übermut die Rollschuhe anschnallte, sich auf den Holzroller stellte, sich den Ball unter den Arm klemmte und so ausgestattet eine Treppe hinunterfuhr. Leider nahm das kein gutes Ende. In einem anderen Jahr musste mein Vater vor Gericht erscheinen. Er hatte unerlaubterweise auf einem Baustellengelände gespielt und wurde dabei erwischt. Er wurde zu einer geringen Geldstrafe verurteilt, was meinen Großvater so sehr aufregte, dass dieser mehrere Pfund Strafe zahlen musste. Es gibt vielleicht noch zwei oder drei kurze Anekdoten, die mein Vater aus seiner Kindheit erzählte, mehr weiß ich nicht.

Als mein Vater 18 Jahre alt war, emigrierte die Familie nach Südafrika, in ein Land in dem Rassentrennung herrschte. Die Textilindustrie in England war dem Untergang geweiht und mein Großvater hatte seine Arbeit verloren. So ging er als Wirtschaftsflüchtling in ein Land, indem es so viele Menschen gab, die unter der Apartheid leiden mussten.

Ich habe meinen Großvater fünfmal in meinem Leben gesehen. Er war ein überzeugter Rassist und nahm in der Hinsicht kein Blatt vor den Mund. Oh, mein Gott, was er uns erzählte, war wirklich schwer auszuhalten. Mein Interesse mich mit ihm zu unterhalten, war dementsprechend extrem gering und ich kann mich an kein angenehmes oder interessantes Gespräch mit ihm erinnern. Mit meiner Großmutter habe ich mich gar nicht unterhalten, obwohl sie mir nicht unsympathisch war. Mein Vater drängte uns dazu, mit ihr zu reden, sie zu umarmen, sie könne das nicht so gut.

Ungefähr zwei Jahre später kam mein Vater von Südafrika nach Deutschland. Mit einem kleinen Koffer im Gepäck. Alles andere hatte er zurückgelassen. Ich glaube, dass er auch ein Flüchtling war. Vor was er geflohen ist, das weiß ich nicht. Aber irgendwo in Südafrika oder in England, ist all das, was mein Vater mir nie erzählt hat, all das, was ich nie wissen werde.


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