Kategorie: Allgemein

  • Einmal Opfer, immer Opfer? Nein!

    „Einmal Opfer, immer Opfer!“ Das sagte meine Schwester am Telefon.

    Zu Beginn meiner Therapie dachte ich, ich müsse mich an alles erinnern können. Meine Therapeutin unterstütze das. In der zweiten Sitzung begann sie mir Körperübungen zu erklären, die mich zu meinen Erinnerungen zurückführen sollten. Ich habe mich wirklich bemüht ihren Anweisungen zu folgen. Ich dachte, dass ich nichts zu verlieren habe, wenn ich etwas versuche, was so gar nicht mir entspricht. Die ganze Sache sollte mir ja keinen Spaß bereiten, sondern mein Trauma heilen. Aber so sehr ich auch „turnte“, es tat sich nichts.

    Ich fragte meine Schwester nach ihren Erinnerungen. Per SMS. War es selbstsüchtig sie das zu fragen? Ja. Würde ich es wieder tun? Nein. Ich dachte, ihre Gedanken zu hören, würde mir den Zugang zu dem geben, was im Verborgenen lag.
    Sie war nicht bereit zu sprechen. Ich habe das verstanden und respektiert.

    Die Therapie schritt weiter und es gab keine Fortschritte in Hinsicht auf meine Erinnerungen. Ich merkte, dass die Therpeutin nicht locker lassen wollte.

    Ich kann heute mit Überzeugung sagen, dass sie für mich nicht die richtige Therapeutin war, aber nichtsdestotrotz hat sie in mir viele Prozesse angestoßen. Gerade dadurch, dass sie in fast allen Punkten eine andere Meinung als ich hatte. Oder es vorgab. Vielleicht war das ihre Strategie, um mich aus der Reserve zu locken? Ich weiß es nicht.

    Ich kam zu dem Punkt, an dem ich mich entschied, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Wenn meine innere Blockade so stark war, wollte ich nicht weiter dagegen ankämpfen.

    Eines Abends meldete sich meine Schwester per Telefon. Sie weinte. Sie wollte mit mir doch über alles sprechen. Ich war überfordert. Jetzt, wo sie dazu bereit war, hatte ich das Thema Erinnerungen abgeschlossen. Ich wollte das nicht hören, weil es für mich keine Bedeutung mehr hatte. Ich hatte für mich entschieden, nach vorne zu schauen. Natürlich mit dem Bewusstsein darüber, was geschehen war, aber mit der Entschlossenheit, dass es nicht mein Leben bestimmen soll.

    Sie quälte das schlechte Gewissen, dass sie mich nicht beschützt hatte. Ich war wie im Taumel. Nicht beschützt? Ich sagte ihr, dass sie selber Opfer war, dass sie zu klein war, um mich zu beschützen.

    „Einmal Opfer, immer Opfer!“ erwiderte sie.

    In diesem Moment war mir klar, dass wir uns nicht gegenseitig helfen können.

  • You have no power over me!

    Ich bin kein nachtragender Mensch. Alles was passiert ist, hat mich dorthin gebracht, wo ich bin. Und ich bin zufrieden. Ich habe ein gutes Leben.

    Es gibt Dinge, die nicht hätten passieren dürfen, aber trotzdem kann ich glücklich sein. Den einen Tag mehr, den anderen weniger. Ich glaube nicht, dass Sätze wie „Jeder hat sein Leben selber in der Hand.“ uneingeschränkte Gültigkeit haben. Denn in solchen Sätzen schwingt der Vorwurf mit, dass diejenigen die unglücklich sind, dafür alleine verantwortlich sind.

    Es ist der pure Hohn, Opfern zu sagen, dass sie die Verantwortung tragen. Ich weiß nicht, wovon es abhängt, dass der eine mit seinem Leben zurecht kommt und der andere unter der Last zusammenbricht.

    Ich habe einen Weg gefunden und ich kann entscheiden, wer mich auf diesem Weg begleitet. Meine Eltern, meine Schwestern, mein Bruder gehen einen anderen Weg. Es tut so gut zu wissen, dass sie keine Macht über mich haben!

  • Ist doch nicht so schlimm!

    Dadurch dass meine Eltern nichts unternommen haben, hat sich bei mir der Gedanke festgesetzt, dass es nicht so schlimm ist, vom eigenen Bruder missbraucht zu werden. Es ist passiert und es lässt sich nicht ändern. Ach, so schlimm ist das doch gar nicht!

    Vor rund zwanzig Jahren gab es eine Kampagne für die Nummer gegen Kummer und ich habe oft darüber nachgedacht, dort anzurufen. Ich weiß nicht, was mich schlussendlich davon abgehalten hat, aber egal was es war, es war einfach falsch zu schweigen! Schweigen ist keine Lösung. Es ist verlockend, so zu tun als wäre nichts geschehen, sich einzureden, dass es alles in Ordnung ist.

    Natürlich habe ich mir wie meine Eltern gewünscht, dass wir eine glückliche Familie sind! Und um diese Illusion aufrechtzuerhalten, war ich bereit eine Rolle zu spielen. Jahre lang nicht ich sein. Ich habe keine Erinnerungen daran, wie es sich als Kleinkind angefühlt hat, mit meinem Bruder am Frühstückstisch zu sitzen, mit ihm zu spielen, mit ihm all das zu teilen, was zum Familienalltag gehört, aber ich könnte bei dem Gedanken daran kotzen!

    Meine Eltern haben mich zur Täterin gemacht. So lange ich geschwiegen habe, war alles in Ordnung. Durch den Versuch darüber zu sprechen, habe ich den Traum der glücklichen Familie attackiert. Den Kampf darum, dass meine Eltern mich als Opfer wahrnehmen, habe ich aufgegeben. Für was auch? Um wieder in die alte Rolle der angepassten Tochter zu schlüpfen? Nein, danke!

    Ich habe schmerzlich begriffen, dass es die Familie und die Eltern, die ich mir immer gewünscht habe, nicht gibt und nie geben wird. Meine Eltern werden nie ihre Illusion aufgeben, dass wir die Perfekte Familie sein können.

    Vor einigen Tagen schrieb mein Vater eine E-Mail und fragte, ob wir gemeinsam in Urlaub fahren. What the fuck? In Urlaub fahren? Wir? Weiter schrieb er: Unsere Angebot gilt nach wie vor, aber ein Mindestmaß an höflichen Umgang miteinander ist eine unbedingte Voraussetzung.

    Ich kann gar nicht sagen, was daran alles falsch ist. Ich habe meinen Eltern sehr deutlich gesagt, dass ich keinen Kontakt mit ihnen haben will. Und jetzt möchten sie mit uns in Urlaub fahren? Und Bedingung ist ein Mindestmaß an Höflichkeit? Mir wird schlecht!

    Das zeigt mir so klar, dass meine Eltern mich nie verstehen werden.

  • Das Leben ändern.

    Im Sommer 2013 hatte ich das Gefühl, ich würde jeden Moment explodieren. Hätte ich mich jemand auf der Straße blöd angequatscht, hätte ich dies dankend zum Anlass genommen, meiner Wut freien Lauf zu lassen. Nein, ich hätte es nicht getan, aber der Gedanke war verlockend.

    Was war passiert? Alles begann mir über den Kopf zu wachsen. Vor allen Dingen quälten mich die Ansprüche, die ich an mich stellte. Kontrolle bewahren, keine Niederlagen eingestehen, immer funktionieren. Das alles begleitet von ununterbrochener Grübelei.
    Mir wurde klar, dass es so nicht weitergehen kann. Ich vereinbarte einen Termin bei meinem Hausarzt.

    “Mein Bruder hat mich und meine Schwester im Kleinkindalter sexuell missbraucht.“

    Betretenes Schweigen.

    “Wissen Ihre Eltern davon?”
    “Wo wohnt Ihr Bruder?”
    “Wurde es strafrechtlich verfolgt?”

    Der Arzt empfahl eine Gesprächstherapie und ließ mich mit dem Hinweis gehen, ich solle bitte nicht nach der Diagnose auf der AU googeln. Posttraumatische Belastungsstörung.

    Needless to say: Ich habe mich im Internet informiert.

    Eine Woche später hatte ich das verordnete Erstgespräch. Bei einer Frauenärztin, die eine Weiterbildungen im Bereich Psychotherapie und Homöopathie absolviert hatte. Die Auswahl an Therapeuten war sehr begrenzt.

    Den Psychologen, den ich zuerst angerufen hatte, machte bei mir keinen guten Eindruck. Er meldete sich am Telefon und ich sagte: “Guten Tag! Hier spricht Frau Needlesstosay.” Seine Antwort:

    “Ich kann Sie nicht verstehen.”

    Und ich im Gedanken: „Was?“

    Ich rufe einen Gesprächstherapeuten an und der erste Satz, den er zu mir sagt, lautet
    “Ich kann Sie nicht verstehen.”? Ich legte auf. (Wie sich später herausstellte, hatte mein Vater einige Jahre zuvor bei ihm therapeutische Hilfe gesucht und gefunden.)

    Aber zurück zu der Frauenärztin mit absolvierter Weiterbildung im Bereich Psychotherapie und Homöopathie. Das hätte mich wirklich stutzig machen können. Sie begrüßte mich herzlich, bat mich die Schuhe auszuziehen und mich so zu setzen, dass beide Füße Kontakt zur Mutter Erde haben. Denn die Mutter Erde würde mir immer Halt geben. Zu diesem Zeitpunkt war ich einfach dankbar eine Therapeutin gefunden zu haben und versuchte mich darauf einzulassen. Ich brauchte Veränderungen in meinem Leben und warum dafür nicht in Kontakt mit Mutter Erde treten?

  • Nutzlos!

    Needless to say! Eine wortwörtliche Übersetzung würde lauten: Nutzlos es zu sagen! Die sinngemäße Übersetzung heißt schlicht und einfach ’natürlich‘. Wenn ich also sagen würde „Draußen regnet es. Die Straße wird nass.“ Könnte ein Kommentar dazu sein: „Needless to say!“. Denn selbstverständlich wird die Straße bei Regen nass, es ist unnötig es zu sagen. Jeder weiß das.

    Für mich ist es aber eine Art Sinnbegriff für die Kommunikation mit meinen Eltern. Es ist nutzlos mit ihnen zu sprechen. Ich habe sehr schnell verstanden, dass meine Eltern nicht damit umgehen können, dass ich von meinem Bruder missbraucht wurde. Sie wünschen sich so sehr, dass ihre Familie zusammenhält, dass sie nicht bereit sind diesen Wunsch aufzugeben. Und das ist ein Scheideweg. Sie können nicht an ihrem Traum der glücklichen Familie festhalten und gleichzeitig akzeptieren, was passiert ist. Sie haben eine Entscheidung getroffen, sie beharren darauf, dass ihre Familie eine glückliche Familie ist. Und das heißt folglich auch, dass ich bitteschön still halten und still sein soll. Suck it up! Stell dich nicht so an!

    Es ist doch nicht zu viel verlangt, Geburtstage gemeinsam zu feiern. Ich könne mich ja in eine andere Ecke setzen. Zum 40. Hochzeitstag wirst du doch bereit sein mit der ganzen Familie einen gemeinsamen Urlaub zu verbringen. Also, bitte! Was ist los mit dir?

    Ich bin es einfach leid, immer wieder zu erklären, warum ich das nicht will. Wobei das auch wirklich jeder andere Mensch auf der Welt (außer natürlich meine Eltern) verstehen würde. Ich hatte immer die Hoffnung, dass sie es verstehen und um überhaupt einen Umgang mit mir zu ermöglichen, manche Themen nicht ansprechen. Inzwischen habe ich verstanden, dass es einfach vollkommen zwecklos ist.

    Und jetzt kommt meine Mutter mit dem super Vorschlag um die Ecke, wir könnten zu einen Mediator gehen. Ich weiß schon jetzt, wie das laufen würde. Meine Mutter würde dies als Plattform nutzen, um wieder und wieder von ihrem Leben und von all den schlimmen Dingen, die ihr passiert sind, zu erzählen. Denn egal, wann und über was ich mit meiner Mutter gesprochen habe, am Ende erzählt sie von sich. Ich kann es nicht mehr hören!

    Nein, ich gehe nicht mit euch zu einem Mediator. Es ist aus und vorbei! Adieu!

  • Bist du dir sicher, dass du das nicht geträumt hast?

    Welche Erwartungen hatte ich an meine Eltern, bevor ich ihnen das gesagt habe? Ich hatte es bereits einer Freundin erzählt, die damit vollkommen überfordert war. Sie schlug deshalb vor, dass ich es ihrer Mutter erzähle, die damit vollkommen überfordert war. Sie schlug aus diesem Grund vor, dass ich es meinen Eltern erzähle. Ich weiß nicht, was ich von meinen Eltern erwartet habe, aber mit Sicherheit habe ich nicht damit gerechnet, dass sie damit vollkommen überfordert sein werden.

    Mit 14 Jahren hatte ich vielleicht die Vorstellung, dass alles wieder gut sein wird, sobald ich es meinen Eltern erzählt habe. Ich habe sicherlich auf Trost gehofft, auf offene Arme, auf Verständnis. Ich sagte meinen Eltern, dass ich ihnen etwas erzählen muss, etwas von Bedeutung. Und so saßen wir eines Nachmittags zu dritt im Wohnzimmer und ich werde ich in einem ähnlichen Wortlaut gesagt haben:

    „Mama, Papa, mein Bruder hat mich missbraucht, als ich ein Kleinkind war.“

    Die Antwort meiner Mutter kam schnell und traf mich wie ein Vorschlaghammer.

    „Bist du dir sicher, dass du das nicht geträumt hast?“

    Ich kann mich nicht erinnern, wie meine Antwort lautete. Meine Erinnerung setzt dort ein, wo die Erzählung meiner Mutter darüber beginnt, dass ihr das als Kind auch widerfahren sei. Sie wurde von einem Nachbarn, der Böses im Schild führte, im Schrank eingesperrt. Ich habe bis jetzt nicht verstehen können, was das überhaupt mit mir zu tun hat.
    Meine Mutter fragte, ob ich psychologische Unterstützung benötige. Ich sagte, nein. Mein Vater sagte mir, dass Jungs in dem Alter so seien. Ich sagte nichts. Umarmung hier, Umarmung da. Gespräch beendet. Thema abgeschlossen.

    Die nächsten 16 Jahren sprachen wir nicht darüber. Alles ging weiter wie bevor, als hätte es das Gespräch nie gegeben. Meine Eltern müssen auf eine Art unfassbar dankbar dafür gewesen sein, dass ich mich darauf einließ. Ich bin nicht ausgeflippt. Ich habe nicht geschrien. Ich habe ihnen keine Vorwürfe gemacht. Ich bin jeden Tag in die Schule gegangen. Ich machte ihnen keinen Kummer und auch keine Sorgen. Ich bin sogar, wie es sich gehört, bei jedem Besuch bei meinem Bruder und seiner Familie dabei gewesen. Und wenn er zu Besuch war, war ich natürlich auch anwesend. Alles lief, wie es laufen soll, so wie es sich meine Eltern wünschten.

    Meine Eltern hatten beide, wie man so sagt, eine schwere Kindheit. Dementsprechend groß war ihr Wunsch alles besser zu machen. Der Wunsch meiner Mutter eine glückliche Familie zu haben, die in Harmonie lebt, war und ist übergroß. Alles was nicht in diese Vision passte, wurde an den Seiten radikal abgeschnitten. Dass die Tochter vom 9 Jahre älteren Sohn sexuell missbraucht wird, passt in keine Vision, die eine glückliche Familie enthält. Aber das ist niemals ein Grund dafür, dass meine Eltern komplett über mich und was passiert war hinweggingen, keinerlei Verantwortung übernahmen und mich im Stich ließen.

    Meine Eltern müssen von ihrem Wunsch nach der glücklichen Familie so getrieben gewesen sein, dass sie sich sehr bemühten, das Gespräch so schnell wie möglich zu vergessen. Wenn sie sich ernsthaft damit beschäftigt hätten, hätten sie wissen müssen, dass eine 14-jährige nicht allein entscheiden kann, ob sie psychologische oder Unterstützung anderer Art benötigt. Sie haben sich durch scheinbar tröstende Worte und eine Umarmung von jedweder Verantwortung frei gekauft.

    Danke für nichts, Mama und Papa!